Eine Rezension von Horst Wagner


Abenteuerliche Vater-Suche

Holde Barbara Ulrich: Zuhause ist kein Ort
Ullstein Taschenbuchverlag, München 2000, 388 S.

Worin liegen die Wurzeln für ausländerfeindliche Gewalt? Das war angesichts der Anschläge von Düsseldorf, Eisenach und anderswo eines der zentralen Medien-Themen dieses 2000er Sommers. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die besonders erschreckenden Formen solcher Gewalt in Ostdeutschland vorwiegend auf die real-sozialistische Vergangenheit zurückzuführen sind oder ob sie nicht eher Westimporte sind, die im Osten angesichts eines radikalen Werteumbruchs und einer ungewohnten sozialen Unsicherheit auf besonders fruchtbaren Boden fielen. Vor diesem Hintergrund dürfte der Roman-Erstling der ostdeutschen Autorin Holde Barbara Ulrich, die bisher vor allem durch journalistische Reportagen, Porträts und Essays (erschienen von „Amica“ bis „Die Zeit“ sowie in Sammelbänden) bekannt geworden ist, auf besonderes Interesse stoßen. Zumal sie das Thema nicht trocken referierend angeht, sondern in eine spannende, in exotische Gefilde führende Story packt, wobei ihr sicher ihre Kenntnisse als studierte Philosophin und Afrika-Wissenschaftlerin zugute gekommen sind.

„Ich habe mir lange nicht erklären können, warum einige Leute mit den Fingern auf mich zeigen - mit höhnischer Neugier oder mit freundlichem Erstaunen ... Ich war einzigartig, immer auf dem Präsentierteller.“ So reflektiert Chioma, Tochter einer DDR-Deutschen und eines Nigerianers, der in Ostberlin studierte, aber noch vor Chiomas Geburt nach Afrika zurückkehrte, ihre Kindheit in einer ostdeutschen Kleinstadt. Später, in Berlin, wird sie von Skinheads angepöbelt und zusammengeschlagen und muß erleben, wie der Vorfall von Volkspolizei und Staatsanwaltschaft verharmlost und vertuscht wird. „Es bleibt das Entsetzen. Zum ersten Mal hat sie diese unglaubliche Mißachtung erlebt. Eine tödliche Bedrohung, gegen die sie nicht ankommt. Nur weil ihre Haut dunkler ist ...“

Clara, Chiomas Mutter, spricht aus enttäuschter Liebe nicht gern über Jonathan, den Vater. Für sie ist er gestorben. Und so sagt sie es auch ihrer Tochter: Dein Vater ist tot. Diese aber glaubt nicht daran. Kurz vor der „Wende“, im Sommer '89, macht sie sich auf, ihren Vater und ihre afrikanischen Wurzeln zu suchen. Da sie inzwischen afrikanische Literatur studiert, erwirkt sie eine Einladung ins DDR-freundliche Ghana, von wo sie auf abenteuerliche Weise, mehr oder weniger illegal, ins eher sozialismusfeindliche Nigeria gelangt. Von um sie werbenden Männern und hilfreichen Frauen unterstützt, findet sie dort ihren Vater. Aber er liegt im Sterben. Und Chioma muß feststellen, daß auch Nigeria für sie kein Zuhause ist.

So verkürzt wiedergegeben, scheint es eine etwas sentimentale Geschichte zu sein. Aber der Autorin ist vor allem eine sehr poetische, voller Lebensweisheiten steckende, tiefe Einblicke in afrikanische Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche und Familientraditionen gebende Erzählung gelungen. Geschrieben in einer Sprache, die mal zupackend-direkt, dann wieder nachdenklich-retardierend ist und die den Leser das fremde Land gleichsam hören, schmecken und riechen läßt. Dahinter bleiben für meinen Geschmack allerdings die in der DDR spielenden Passagen merklich zurück. So verdienstvoll es ist, das Thema Ausländerfeindlichkeit in der untergegangenen Republik auch literarisch aufzugreifen (man fragt sich, warum das eigentlich nicht schon früher geschehen ist), so hätte doch dieser Widerspruch zwischen deklariertem Internationalismus in der Ideologie und tief im Alltagsbewußtsein steckenden Vorurteilen, zwischen durchaus praktizierter Solidarität und einem bis zu gewaltsamen Ausschreitungen reichenden Verdammen des „Fremdartigen“, dieses Hinwegsehen über erschreckende Vorgänge, weil sie nicht in das gewünschte Bild passen, eine tiefere und differenziertere Ausleuchtung verdient.

Aber vielleicht ist das schon das Thema für einen neuen Roman.

Zuhause ist kein Ort ist jedenfalls ein Buch, das sich mit einiger Spannung, vor allem aber mit Kenntnisgewinn und ästhetischem Genuß lesen läßt und dem man einen weiten Leserkreis wünschen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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