Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Irrfahrten eines schüchternen Doktoranden

Hans-Ulrich Treichel: Tristanakkord
Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 240 S.

Der Tristanakkord war der einzige Akkord, den Georg Zimmer dem Namen nach kannte. Er verband damit etwas Sehnsüchtig-Trauriges oder Unerlöstes, und davon hat dieses Buch seinen Titel.

Georg hat gerade sein Germanistik-Diplom abgelegt (und ein paar Gedichte geschrieben). Bis sein Doktoranden-Stipendium einsetzt, hält ihn das Sozialamt Berlin-Kreuzberg über Wasser. Da kommt ihm das Angebot von Bergmann, dem berühmtesten lebenden deutschen Komponisten („eine Art Brahms oder Beethoven unserer Tage“), seine Memoiren zu redigieren, gerade recht. Also auf zu den Hebriden, wo der unermüdlich komponierende Bergmann gerade im Hause eines Berufskollegen fürstlich residiert, dann nach New York, wo Bergmanns neueste Sinfonie Premiere hat, und schließlich nach Sizilien, wo der Meister ein großes und repräsentatives Anwesen besitzt. Soviel Welt hätte er sonst lange nicht gesehen! Die Überarbeitung des Typoskripts bekommt er zur Zufriedenheit des Verfassers hin, aber als der bei ihm eine Hymne für die nächste sinfonische Dichtung als Schlußchor bestellt, gelingt es Georg trotz Anlehnung an Georg Heym nicht, die erforderliche Qualität zu erreichen. Das zugrunde liegende Original wird von Bergmann rasch enttarnt, der Traum, durch kongeniale Zuarbeit ein wenig vom Ruhme Bergmanns zu partizipieren, ist dahin. Auch Mary, eine Kompositionsschülerin Bergmanns, die nun für den großen Mann die Reinschrift der Partituren besorgt und die auf Georg wie die Verkörperung von Jugend, Anmut und Schönheit wirkt, sieht er nur von weitem.

Traurig und unerlöst also geht er aus dieser Episode seines jungen Lebens hervor, wahrscheinlich wird er schlußfolgern, daß Meistern, die vom Himmel fallen, zutiefst zu mißtrauen ist. Der Westfale Treichel (48) aber, der sich mit Gedichtbänden und der Erzählung Der Verlorene einen Namen unter Kennern gemacht hat, hat daraus ein humoriges Buch geformt, elegant und witzig, locker geschrieben in einem Zuge, ohne Kapitelunterteilung, fast ohne Absatz. Ein Buch, das man leicht und schnell liest, das unterhält und amüsiert, ein luftiges Gespinst, das man genießt wie Cremespeise. Da taucht der schüchterne Georg staunend in die Welt der Großen ein, wo Zimmerfluchten und Parkanlagen, Butler, Chauffeur, Haushälterin und Sekretär zu Diensten stehen, wo man über Kontinente hinweg disponiert und wo Geld keine Rolle mehr spielt. Und er hat oft ein Brennen im Hals und einen Druck unter dem Gaumen bei seinen Begegnungen mit dem großen Bergmann, der ihn mal wie seinesgleichen behandelt und mal wie Luft, der zwar einerseits vor Arbeitswut und Kreativität zu bersten scheint, andererseits aber anmaßend und eitel ist, spleenig und überheblich, daß es schon grotesk ist. Mal fühlt sich Georg durch Partnerschaft geadelt und emporgehoben, mal durch Herablassung oder Nichtachtung beleidigt und entwürdigt.

Georgs Schwierigkeiten, sich in dieser Welt zu orientieren, sind wunderbar skizziert, und Bergmann ist ganz und gar glaubhaft umrissen, kein Abgleiten in die Karikatur beschädigt die Figur. Und trotzdem handelt es sich um ein Buch, das keine Höhen und Tiefen hat, das keine tieferen Eindrücke und Einsichten hinterläßt. Warum bleibt der Leser so fröhlich distanziert? Vielleicht, weil außer Bergmann und Zimmer keine Figur plastisch wird (bei Mary und bei David, dem Sekretär, wird viel verschenkt), die Schaffenskraft Bergmanns so krisenlos sprudelt, Erfolg und Ruhm als statische Größe erscheinen und nicht als erworben, umkämpft und ständig bedroht, die Musik überhaupt im Grunde nebensächlich bleibt, weder Art und Qualität der Memoiren Bergmanns noch die Korrekturen Georgs daran eine Rolle spielen, kein Problem je wirklich existentiell wird und viele Details, die ausführlich behandelt werden, so alltäglich und zufällig sind. Die vom Verlag angekündigte Geschichte eines jungen Mannes, der in der Kunst das Licht der Welt sehen will und darüber, geblendet und verwirrt, in ein krudes Dunkel gerät, ja ganz den Boden unter den eigenen Füßen zu verlieren droht, habe ich nicht gefunden. Aber was wirklich bleibt, ist auch nicht wenig. Die Kunst zu unterhalten sollte keinesfalls gering geschätzt werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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