Analysen · Berichte · Gespräche · Essays


Kurt Wernicke

Der arge Weg der Erkenntnis.
Zum Umgang mit dem
Preußen-Bild in der DDR

Die vom NS-Regime verschuldete deutsche Katastrophe, die im Jahr 1945 ihren überdeutlichen Ausdruck fand, brachte in allen Teilen der deutschen Gesellschaft tiefgreifendes Nachdenken über deren Ursache hervor. Dabei wurde nicht übersehen, daß die einfache Abwälzung der Schuld auf den Nazismus zu kurz griff, denn auch der hatte ja nicht wurzellos in der deutschen Gesellschaft emporsprießen können. Und da boten sich - wie es nach Katastrophen üblich ist - einige einfache Lösungen an, die in allen Besatzungszonen ihre Kolporteure fanden: Preußentum und dessen spezifische Ausbildung im preußischen Militarismus waren gut geeignet, als Sündenböcke für die Anhimmelung des „starken Mannes“, Kadavergehorsam und Untertanengeist herzuhalten, von denen der Aufstieg der NS-Bewegung, das Dritte Reich und der deutsche Weg in und durch den Krieg begleitet gewesen waren. Nicht nur in der traditionell mit dem Preußentum im Clinch liegenden deutschen Linken unterschiedlicher Parteicouleur, sondern selbst im konservativen Bürgertum wurden die scheinbar leichten Antworten gehegt und gepflegt: Selbst der 84jährige Senior der deutschen Geschichtswissenschaft, Friedrich Meinecke, äußerte sich 1946 in dem in Wiesbaden erschienenen Essay „Die deutsche Katastrophe“ im kritischen Rückblick auf sein eigenes Leben als Wissenschaftler in diesem Sinne über den nach 1871 eingerissenen unheilvollen Borussismus und den mit ihm verknüpften Militarismus ...

Um wieviel mehr und wieviel lieber griff nun die Linke - selbst die christliche - auf ihre aus dem 19. Jahrhundert ressortierende antipreußische Haltung zurück. Für die Arbeiterparteien KPD und SPD hatte die vereinfachte Schuldzuweisung noch den positiven Effekt, daß sie die Arbeiterschaft aus der Schußlinie der prinzipiellen Kritik heraushalten konnte und für die von SPD wie KPD als Erbteil aus der Weimarer Republik herübergerettete (und ohne jeden Zweifel berechtigte, wenn auch in ihrer besonders radikalen ostdeutschen Ausprägung von der sowjetischen Besatzungsmacht zu verantwortende) Bodenreform-Option eine historisch abgesicherte moralische Begründung mitlieferte. Der alte Funktionärsstamm beider Parteien hatte Franz Mehrings, Max Maurenbrechers („Die Hohenzollern-Legende“) und Emil Rosenows („Wider die Pfaffenherrschaft“) schon vor 1914 in hoher Auflage vom „Vorwärts“-Verlag verbreiteten, aus der Auseinandersetzung mit dem damals alltäglich-penetranten Thron-und-Altar-Mythos resultierenden polemischen Arbeiten zur preußischen Geschichte nicht nur gelesen, sondern geradezu verinnerlicht. In der Bewertung Preußens und des preußischen Erbes gab es in der Sowjetzone selbst in der kurzen Zeit, da beide Parteien noch selbständig nebeneinander bestanden, keine wirklichen Differenzen. Eine der ersten Publikationen des nach der Verschmelzung beider zur SED gegründeten Dietz-Verlages war dann auch der Sammelband „Franz Mehring, Historische Aufsätze zur preußisch-deutschen Geschichte“, der im Mai 1946 erschien und praktisch nur Abschnitte aus Mehrings Schriften zusammenstellte, die gegen Preußen und die Hohenzollern polemisierten. Noch im selben Jahr veröffentlichte der Aufbau-Verlag in beachtlicher Auflage den im mexikanischen Exil 1944/45 entstandenen Überblick „Der Irrweg einer Nation“ von Alexander Abusch, der 1930 bis 1932 als Chefredakteur des KPD-Zentralorgans „Die Rote Fahne“ fungiert hatte: Dortige Kapitelüberschriften wie „Preußen gegen Deutschland“ und „Die Legende vom preußischen Sozialismus“ kennzeichnen die Stoßrichtung der Beweisführung, wobei Abusch mit letzterem Kapitel direkt an Mehrings „Lessing-Legende“ von 1893 anknüpfte. Mit diesen Werken und zwei ebenfalls 1946 in deutscher Übersetzung vorliegenden sowjetischen Broschüren („Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum“ vom Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut und S. M. Lesniks „Was hat Preußen Deutschland gegeben?“ - beide darauf zugeschnitten, die entscheidende Wurzel für die Untaten des „Dritten Reiches“ in der Entstehung und Entwicklung Preußens nachzuweisen) wuchs die erste Generation von Neulehrern, Arbeiter- und Bauern-Studenten und zum Geschichtsstudium Immatrikulierten in der Sowjet-Zone und der jungen DDR auf.

Und doch war das von Abscheu und Feindseligkeit geprägte Preußenbild der SED von Anbeginn an ambivalent: Selbst bei Abusch war ein Kapitel den „Männern um Stein“ gewidmet, und der neue Schulbuchverlag Volk und Wissen, der angesichts des vom Alliierten Kontrollrat erlassenen Verbots der Benutzung alter deutscher Geschichtsbücher in aller Eile „Lehrhefte für den Geschichtsunterricht an den Oberschulen“ an die Lehrer lieferte, begann diese Serie mit dem Titel „Die preußischen Reformen“ von Paul Ostwald, einem aus der Weimarer Republik her geschätzten Pädagogen; er stellte in den Vordergrund, daß die Reformen auf die Freisetzung von Kräften gezielt hatten, die im Sinne von Menschenwürde, Freiheit, staatsbürgerlicher Gleichberechtigung und politischer Mitverantwortung wirken sollten. Die Führungsschicht der SED, die in ihrem Selbstverständnis zur Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse angetreten war, fand in den preußischen Reformern ein Vorbild, das für eine historische Legitimation des eigenen Tuns wie geschaffen schien.

Die zur neu aufgebauten intellektuellen Schicht gehörenden „jungen Kader“ begannen dann allerdings, sobald sie den Weg dahin adaptiert hatten, sich selbst an den zugänglichen Quellen zu orientieren, und da stießen sie bald auf Äußerungen der neuen ideologischen Leitfiguren Marx und Engels, die in ihrer pragmatischen Art die Rolle Preußens in der deutschen Geschichte in mancher Hinsicht relativiert hatten, z. B. im Hinblick auf den Deutschen Zollverein, aber selbst bei der Besichtigung der Bismarckschen Politik hin zur Reichsgründung von 1870/71. Bei den diversen Gedenken zur Hundertjahrfeier der Revolution von 1848 stießen die jungen SED-Kader notgedrungen auch auf Mehrings - gegenüber der Frankfurter Paulskirche - positive Heraushebung der Preußischen Nationalversammlung in Berlin, die viel mehr die praktischen Probleme einer endgültigen Überwindung rest-feudaler Verhältnisse angepackt hatte. Als 1952 das neugegründete Museum für deutsche Geschichte in Berlin die Pforten seiner ersten Überblicksausstellung öffnete, waren als Pendant zu den preußischen Angriffskriegen im 18. Jahrhundert die Berliner Aufklärung, die Preußischen Reformen und der Deutsche Zollverein gewürdigt.

Der im Sommer 1952 mit der Kasernierten Volkspolizei aus der Taufe gehobene Kern einer DDR-Volksarmee stellte deren oberste Politkommissare vor das Problem einer möglichen Traditionslinie, die neben den Internationalen Brigaden, der Roten Ruhrarmee und den Roten Matrosen von 1918 etwas weiter zurück in die Geschichte ragen könnte: Da wurden ihnen (neben dem Prinzen Eugen und seiner Rolle bei der Abwehr drohender osmanischer Fremdherrschaft) die preußischen Militärreformer und die Bewährung von deren Schöpfung im nationalen Befreiungskampf 1813 ebenso wie Steuben (mit seinem erheblichen Anteil am erfolgreichen Unabhängigkeitskampf der Nordamerikaner) und das Gespann Großer Kurfürst/Derfflinger mit der Würdigung ihrer Leistung, Norddeutschland von der permanenten schwedischen Invasionsdrohung befreit zu haben, angeboten - ein Angebot, das begierig angenommen wurde. Schon im folgenden Jahr gab es anläßlich des 140. Jahrestages des Befreiungskrieges eine geschichtspropagandistische Welle, die zwar in erster Linie aus durchsichtigen Gründen auf deutsch-russische Waffenbrüderschaft abstellte, aber doch eine breite Würdigung preußischer Linie und Landwehr wie auch der Aufbruchstimmung des preußischen Hinterlandes implizierte.

Ein auf dieser Welle angesiedelter eher marginaler Roman über Ferdinand von Schill hatte in dem jungen Journal „neue deutsche literatur“ 1954 eine erste empörte Reaktion auf grobe Vereinfachungen im Umgang mit Preußen hervorgerufen: Der Kunsthistoriker Georg Piltz erinnerte in einer Rezension an die Wirkung des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 und polemisierte gegen die weitverbreitete gedankenlose Verwendung des Begriffs „Leibeigenschaft“ zur Charakterisierung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse im ostelbischen Preußen. Sechs Jahre später lag eine erste umfassende Arbeit zum Allgemeinen Landrecht aus DDR-Feder vor: Uwe-Jens Heuer publizierte unter dem Titel „Allgemeines Landrecht und Klassenkampf“ eine Untersuchung zum ALR, die dieser Kodifizierung aufklärerischer - natürlich auch kompromißlerischer - Rechtsgrundsätze in dialektischer Durchleuchtung ihrer Entstehungszeit einen doch im ganzen positiven Aspekt auf dem hindernisreichen Weg bürgerlicher Entwicklung auf deutschem Boden zumaß.

Die mit der Schaffung der Nationalen Volksarmee 1956 anvisierte Stiftung einer höchsten Militärauszeichnung der DDR brachte dann 1966 den Scharnhorst-Orden hervor. (Scharnhorsts Denkmal war, wie auch das für Blücher, Gneisenau und Yorck, etliche Monate zuvor gegenüber der wiederhergestellten Neuen Wache aufgestellt worden.) Schon 1955 hatte der Kulturbund in seiner Schriftenreihe eine Broschüre über Schills Freischarenzug von 1809 publiziert, die dem Autor zum 150. Jahrestag des Unternehmens im Jahre 1959 eine Vielzahl von Einladungen zu Vorträgen in die 1809 betroffenen Orte einbrachte, bei welcher Gelegenheit oftmals sehr freimütig am Beispiel der preußischen Haltung jenes Jahres über das Dilemma bei möglichen politischen Optionen von nationaler Dimension diskutiert wurde.

Zum 150. Jahrestag von Jena und Auerstedt brach im Winter 1956/57 sogar in der Wochenzeitung des Kulturbundes, „Sonntag“, eine regelrechte Fehde zwischen dem Ost-Berliner Lehrstuhlinhaber Alfred Meusel und seinem Leipziger Widerpart Ernst Engelberg aus, bei der es um die Bewertung Preußens als Hort des nationalen Widerstands gegen Napoleon ging. Während Meusel - von Hause aus Soziologe und als solcher Max-Weber-Schüler - Napoleon als Erben der Französischen Revolution sah und seinen Schatten über Deutschland als Modernisierungsschub bewertete, insistierte Engelberg auf dem Charakter der napoleonischen Suprematie als verdammenswerter Fremdherrschaft und betonte den aus eigener Kraft gefundenen Weg Preußens auf der Straße der Modernisierung. Die Meusel-Schülerin Erika Herzfeld promovierte 1961 unter einem auf „Klassenkämpfe“ bezogenen Titel über das Vierteljahrhundert brandenburgisch-schwedischer Auseinandersetzungen nach 1655, wobei sie die Politik des Großen Kurfürsten gegen manche Kritiker in einen mit Maßen nachvollziehbaren nationalen Zusammenhang stellte. Schon 1958 hatte der Meusel-Schüler Horst Krüger eine umfangreiche Arbeit „Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts“ vorgelegt, die der staatlichen preußischen Manufaktur-Förderungspolitik - bei kritischer Sicht auf die Elogen borussischer Historiker der wilhelminischen Kaiserzeit - positive Wirkungen auf die Herausbildung von Gewerberegionen bescheinigte, die dann Ausgangspunkte für territoriale Gewichtungen bei der im folgenden Jahrhundert ablaufenden Industriellen Revolution abgaben (auch wenn der damals erst im Keim vorhandene Begriff „Proto-Industrialisierung“ bei Krüger noch nicht auftauchte).

Wenn der kürzlich verstorbene Politikwissenschaftler Alfred Grosser von de Gaulle 1962 gehört hatte, daß doch er ebenso wie auch de Gaulle wüßte, „das da drüben“ sei eben „Preußen“, so reflektierte das ein französisches Unbehagen, daß es neben der Rheinischen Bonner Republik (die aus Pariser Perspektive durchaus in der Tradition des einstigen Rheinbundes gesehen werden konnte) in den Konstellationen des Kalten Krieges einen zweiten deutschen Staat gab, dessen Wesen als Arme-Leute-Staat vom reichen Westeuropa mit der nur unwesentlich abgewandelten preußischen Maxime „Großhungern und gehorchen!“ getroffen werden konnte. Da schien eine Tradition weiterzuleben, die westlich des Rheins ungute Erinnerungen weckte. Dabei war den DDR-Oberen diese Parallele lange gar nicht bewußt - in der gesamten Ulbricht-Ära stand deutschlandpolitisch nicht der mit Bismarck verbundene preußische Weg zur nationalen Einheit auf der Hitliste der Illusionen im Politbüro, sondern der mit Cavour verbundene piemontesische Weg, wie er in Italien abgelaufen war: Der wirtschaftlich weit weniger potente Nord-Staat Savoyen-Piemont (Königreich Sardinien) einte - mit einer befreundeten Großmacht im Rücken; damals konkret Frankreich - Italien auf der Woge einer anti-österreichischen Nationalbewegung und vollzog dabei gleichzeitig den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft! Erst mit der praktischen Umsetzung der Bonner Neuen Ostpolitik seit 1970 - die die Politbürokratie zum Schwenk um 180 Grad mittels „Abgrenzung“ und dem Konstrukt einer eigenen DDR-Nation veranlaßte - dämmerte die Bedeutung der Tatsache, daß das Territorium der DDR sich zum überwiegenden Teil auf einem Boden befand, der als deutsches Kolonialgebiet um Jahrhunderte zeitversetzt in den mediterran-fränkisch-christlichen Kulturkreis einbezogen worden war. Die Anknüpfung an „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ schien jetzt identitätsstiftend - und dazu kam, daß im Ergebnis dreier Hochschulreformen jetzt nicht mehr nur vereinzelt marxistisch geprägte Historiker zur Verfügung standen, sondern ganze Bataillone ambitionierter Wissenschaftler sich ins Gefecht stürzen konnten. Einer neuen Generation von Historikern in der DDR waren Mehring und Maurenbrecher keine Autoritäten mehr: Diesen stand aus ihrer Sicht nur noch ein - durchaus verdienstvoller - Platz in der Geschichte der Geschichtsschreibung zu.

Ein Stamm solcher marxistischer Historiker arbeitete z. B. unter Jürgen Kuczynskis Leitung als Agrarhistoriker im Institut für Wirtschaftsgeschichte der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften. Er widmete sich ohne viel Aufhebens der Zerstörung der in der deutschen Linken zutiefst verinnerlichten Vorstellung von der preußischen Bauernbefreiung als Quelle der mittels Bauernlegen in Ostelbien bewirkten Entstehung von kapitalistisch betriebenem Rittergut einerseits und ländlichem wie städtischem Proletariat andererseits, die seit dem entsprechenden, 1887 erschienenen Standardwerk des Liberalen Georg Knapp in der deutschen Historiographie als unumstößlich galt. Seit 1972 traten Rudolf Berthold und Hartmut Harnisch mit ihren Forschungsergebnissen sukzessive an die Öffentlichkeit, die das verbreitete Bild vom massenhaften Bauernsterben infolge des preußischen Wegs in der Landwirtschaft zerstörten. Ihnen trat Hans-Heinrich Müller zur Seite, der an überzeugenden Beispielen nachwies, daß bürgerliche Domänenpächter und bürgerliche Zuckerbarone in weiten Teilen Ostelbiens durchaus erfolgreich den bürgerlichen Alternativweg zur Umwandlung der feudalen in eine kapitalgebundene Landwirtschaft gewiesen hatten. Massiv unterbreiteten die drei ihre Erkenntnisse 1976 auf einer Historikertagung in Rostock. Dennoch dauerte es noch ein rundes Jahrzehnt, ehe ihre wissenschaftlich belegten Thesen bis in die Geschichtslehrbücher der Schulen aller Ebenen durchzuschlagen vermochten. Begleitet wurde diese differenziertere Sicht von einer durch Gotthard Erler wissenschaftlich hervorragend untersetzten, sukzessive in die Öffentlichkeit und die öffentlichen Bibliotheken gelangende Neuausgabe von Theodor Fontanes bekanntlich nicht gerade unter junkerfeindlich einzugruppierenden „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ im Aufbau-Verlag, deren erster Band 1975 erschien und die innerhalb eines Jahrzehnts drei Auflagen erlebte.

In diversen Instituten an Universitäten und Akademien wurden seit dem Anfang der siebziger Jahre, der Kuczynski-Domäne analog, Themen zur grundlegend neuen Sicht auf Stereotype des für die DDR bis dahin im großen Ganzen verbindlichen Preußenbildes bearbeitet. Zunächst legten mit Günther Vogler und Klaus Vetter zwei junge Geschichtsdozenten der Humboldt-Universität 1970 einen ersten geschlossenen Abriß der preußischen Geschichte („Preußen. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung“) vor, in dem - bei aller Polemik gegen den von Sybel und Treitschke beschworenen und von ihren Schulen nachgebeteten „deutschen Beruf“ Preußens - Licht und Schatten über die kenntnisreiche Analyse von jeweiligem Anspruch und jeweiliger Wirklichkeit bedeutend unparteiischer verteilt waren als bei früheren Veröffentlichungen aus marxistischer Sicht. Das Bedürfnis nach solcher ausgeglicheneren Sicht war offensichtlich so groß, daß der Abriß bis 1984 nicht weniger als sieben Auflagen erlebte. Die im Rahmen der - selbst gesetzten oder auch angemahnten - Aufgabenstellung hinsichtlich mehr Ausgeglichenheit entstandene Dissertation von Jürgen Hofmann über das 1848er Revolutionsministerium Camphausen-Hansemann (abgeschlossen 1976 und im selben Jahr verteidigt an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, dem „think-tank“ der SED; als Buch erschienen 1981) warf das eingefleischte Bild von der Rolle des preußischen Besitzbürgertums im Jahre 1848 - das sich über ein ganzes Jahrhundert an den tagespolitisch geprägten Marx-Polemiken in der zeitgenössischen „Neuen Rheinischen Zeitung“ orientiert hatte - komplett um und beurteilte diese Rolle tief auslotend aus den Ergebnissen des 1848 eingeleiteten Modernisierungsschubs. Jedoch blieb die absehbare Auflockerung festgefügter Stereotype in bezug auf die Gesamtbeurteilung Preußens nicht unwidersprochen: Im Vorfeld des 100. Jahrestags der Reichsgründung von 1871 hatte der Hallenser Doktorand Heinz Kathe 1969 seine Dissertation „Die Hohenzollernlegende“ verteidigt, mit der er gegen alte (z. T. gerade wieder in Vorbereitung auf das Jubiläum aufgelegte) und neue Mythen hinsichtlich dieses Herrschergeschlechts und seines im nachhinein von Sybel und Treitschke in die Geschichte hineininterpretierten „deutschen Berufs“ polemisierte, indem er sich vordergründig mit den altbekannten und neueren historiographischen Urteilen über die Hohenzollern und deren Wirken beschäftigte - aber dabei ganz prononciert gehörige Preußen-Schelte verteilte. 1973 erschien die Arbeit als eine Art korrigierende Darstellung zu Vogler/Vetter auf dem Buchmarkt. Schon zwei Jahre später schob Kathe eine bitterböse Biographie über den „Soldatenkönig“ nach: Er erklärte offen, er wolle mit seiner Arbeit deutlich machen, welchen gravierenden Anteil sein Protagonist daran gehabt habe, daß Brandenburg-Preußen seit dem 18. Jahrhundert die verderblichste Rolle unter den Territorialstaaten auf deutschem Boden gespielt habe - eine von Vogler/Vetter doch schon substantiell relativierte Sicht auf die Interpretation der anstehenden Problematik. Während Vogler/Vetter und Kathe dank relativ hoher Auflagen in praktisch jede öffentliche Bibliothek gelangten, blieb dagegen der 1976 von Helmut Bleiber - immerhin Abteilungsleiter im Akademie-Zentralinstitut für Geschichte - vorgelegte Essay „Staat und bürgerliche Umwälzung in Deutschland“ in der Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt, weil er an sehr entlegener Stelle (nämlich in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften) publiziert wurde. Die bewußt blaß formulierte Überschrift verdeckte den darunter vollzogenen wegweisenden Bruch mit der auf die Junghegelianer zurückgehenden, dementsprechend von Marx und Engels geteilten und von Mehring unreflektiert übernommenen Qualifizierung des preußischen Biedermeier- und Vormärz-Staates als ein seinem Wesen nach feudalabsolutistisches Machtzentrum zur Vertretung von Adelsinteressen: Bleiber legte den Finger auf die Tatsache, daß gerade in Preußen seit der Reformzeit nach 1806, die ihrem Inhalt nach bürgerlich-liberale Veränderungen mit sich gebracht habe, insgesamt eine sukzessive Verbürgerlichung festzustellen sei; und er brach fast ein Tabu, indem er monierte, daß beim Blick auf die Reformzeit und deren Ergebnisse der junkerlich-konservative Widerstand durchweg im Mittelpunkt der Optik gestanden habe: Es sei ja ebenso ein junkerlich-reformerisches Lager auszumachen, das von seiner ökonomischen Praxis her auf den generellen Abbau feudaler Ausbeutungsformen vorbereitet gewesen sei! Mühselig und z.T. qualvoll, aber nichtsdestoweniger stetig habe der einst feudale Staat sich zu einem Staat bürgerlichen Charakters hinentwickelt: um der Revolution von 1848 ihren gewichtigen Platz in der deutschen Geschichte des 19.Jahrhunderts nicht zu schmälern, wies ihr Bleiber - zweifellos mit Recht - die Rolle eines entscheidenden Stimulus für die Beschleunigung des schleppenden Prozesses zu. Mit Bleibers Wortmeldung, die in involvierten Fachkreisen durchaus den erhofften Widerhall fand, war in gleicher Weise wie in der Hofmannschen (aber damals noch ungedruckten!) Dissertation endgültig ein Tabu gebrochen: Die aus der Kampfposition der vormärzlichen und Revolutions-Gegenwart geschöpften Bewertungen aus der Feder der Überväter des Historischen Materialismus wurden ihres bis dato sakrosankten Charakters entkleidet und gaben so den Weg frei für eine weitaus vorurteilsfreiere Sicht auf das Phänomen Preußen. Bleibers abschließende Sentenz wies jedoch bereits in eine größere Dimension des Umgangs mit dem Phänomen: Er prangerte die Erklärung für alle negativen Seiten der deutschen Geschichte nach 1848/49 einschließlich des Hitlerregimes aus einer „Verpreußung“ Deutschlands als ein wissenschaftlich unzulässiges Konstrukt an ...

Der entscheidende Einbruch wissenschaftlicher Bewertung in das Preußenbild des Funktionärskorps erfolgte dann fast sensationell mit der König-Friedrich-Biographie der Berlinerin Ingrid Mittenzwei, die 1979 auf den Büchermarkt gelangte. Im Vorfeld ihres Buches hatte die Autorin im Frühjahr 1978 an wichtiger Stelle - in der von der jungen Intelligenz mit Vorliebe gelesenen Studenten-Wochenzeitung „Forum“ - einen Grundsatzartikel „Die zwei Gesichter Preußens“ veröffentlicht. Darin legte sie dar, daß zur Geschichtslinie beider deutscher Staaten - aber wegen der Allgegenwärtigkeit baulicher Erinnerungen an die preußische Geschichte für die DDR ganz besonders - gelte, daß nicht nur das Weimar der deutschen Klassik, sondern auch Preußen dazu gehöre. Sie schloß mit der Feststellung: „Die Geschichte eines Staates, und sei es die eines Territorialstaates, läßt sich nicht mit der Entwicklung der herrschenden Klasse identifizieren. Und selbst die herrschende Klasse in solchen Staaten war nicht zu allen Zeiten nur reaktionär. An sie und ihre Leistungen gilt es den einzig gültigen Maßstab anzulegen: nämlich zu fragen, in welchem Maße sie zum Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen bzw. inwieweit sie ihn gehemmt haben. Dabei ist der Fortschritt nicht einfach eine ökonomisch meßbare Größe, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das kulturelle und soziale Prozesse sowie die Lebens- und Kampfbedingungen der arbeitenden Klassen in sich einschließt.“ („Forum“, Nr.19/1978) Mit dem Fünfteiler „Scharnhorst“ stimmte das DDR-Fernsehen noch im selben Jahr auf eine sensible Sicht auf die preußische Reformzeit ein, indem Marwitz nicht mehr ausgespart und Hardenberg in den Zwängen einer komplizierten Politik gezeigt wurde. Später folgte eine ähnliche Serie zu Clausewitz.

Fast zeitgleich mit Ingrid Mittenzweis Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie erschien in der Monatsschrift für Theoriefragen der SED, „Einheit“, im Sommer 1979 ein Grundsatzartikel zum Thema „Preußen und die deutsche Geschichte“ von ihr und zwei anderen Vertretern der neuen Generation von DDR-Historikern, Horst Bartel und Walter Schmidt. Sie beurteilten die Auflösung des Staates Preußen durch die Alliierten 1947 durchaus als notwendigen historischen Akt, gaben aber das künftige Preußenbild im Prisma einer gewissenhaften Differenzierung vor: „Ein integrierender Teil des Erbes ist die Geschichte Preußens, einer der größten, stärksten und bedeutendsten deutschen Territorialstaaten, der einen tiefen Einfluß auf die deutsche Geschichte seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ausgeübt hat. Die Entwicklung dieses Staates war widerspruchsvoll. Ebendiese Widersprüchlichkeit zwingt, unsere Stellung zum geschichtlichen Erbe, das von Preußen hinterlassen wurde, genauer zu bestimmen, damit über der notwendigen Bekämpfung und entschiedenen Zurückweisung des Reaktionären an Preußen nicht die positiv-progressiven Momente mißachtet oder gar negiert werden. Denn auch in der preußischen Geschichte gab es reaktionäre und progressive Elemente.“ („Einheit“ Nr. 6/1979, S. 637) Im Verständnis einer „Partei neuen Typus“ war mit solcher Stellungnahme in einem Organ des Zentralkomitees die parteioffizielle Linie vorgegeben, die sich zunächst in spektakulären zentralen Aktionen manifestierte (wie der Wiederaufstellung von Rauchs Reiterdenkmal für Friedrich den Großen in der Straße Unter den Linden im Jahre 1980, die Wiederaufstellung des Denkmals des Freiherrn von Stein 1981 neben der Schloßbrücke, der mehrjährigen Vorbereitung der großen Ausstellung zum 200. Todestag des „Philosophen von Sanssouci“ im Neuen Palais zu Potsdam - ein gewaltiger Publikumserfolg! Das Beuth-Denkmal von August Kiss hatte bis 1989 nur deshalb keinen neuen festen Standort gefunden, weil sich mehrere Konzepte um Beuth stritten ...). Die im Sommer 1981 im Berliner Zeughaus vom zentralen Geschichtsmuseum der DDR eröffnete ständige museale Ausstellung zur deutschen Geschichte stellte dann auch demonstrativ den in seinem Besitz befindlichen Uniformrock Friedrichs des Großen mit Schnupftabakflecken und Stern zum Schwarzen Adlerorden aus. Ein Jahr später würdigte das DDR-Fernsehen in einem Mehrteiler die Geschichte der Charité, stellte dabei u. a. preußische Militärärzte als verdienstvolle Chirurgen vor und ließ anklingen, daß über eine preußische militärchirurgische Laufbahn auch soziale Mobilität ermöglicht wurde. 1985 erschien dann der erste Band von Ernst Engelbergs Bismarck-Biographie, die auch endgültig mit der aus Verfassungskonflikt, Kulturkampf und Sozialistengesetz resultierenden Verteufelung Bismarcks durch die deutsche Linke (bis weit in das linksliberale Bürgertum hinein) aufräumte und den Protagonisten einer fünfzigjährigen Forschungsarbeit aus den politisch-sozialen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts mit ihren objektiven Erfordernissen zu erklären unternahm - ein wissenschaftlich fundiertes Werk, das auch im deutschen Westen und im Ausland mit hohem Respekt aufgenommen wurde.

Die Zähflüssigkeit des Apparates verursachte allerdings die übliche Verzögerung beim vollständigen „Durchstellen“ des neuen offiziellen Preußenbildes bis in die unteren Ebenen - dort, wo es um Schulbücher, Gräber- und Denkmalpflege sowie heimatmuseale Ausstellungen ging. Ohnehin war das neue komplexere Verhältnis zu einer weit weniger aufgeregten DDR-Sicht auf Preußen - das gleichsam partei- und staatsoffizielle Weihe genoß - auch bei den DDR-Historikern nicht unumstritten: Es gab mit amtlich gefeierten Arbeiten hervorgetretene Vertreter der Zunft, die sich mit der neuen Perspektive nicht anzufreunden vermochten. Der 3. Auflage seiner Biographie des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. fügte z. B. Kathe 1983 wieder seinen schon der 1. und 2. Auflage beigegebenen Anhang „Der König und die Nachwelt“ an, in dem er die historiographische Widerspiegelung des historischen Platzes seines Protagonisten bis in die - damalige - Gegenwart nachzeichnete und analysierte. Jeder Funktionär, der sich an das erinnerte, was er ein bis zwei Jahrzehnte zuvor auf seiner Parteischule gelernt und der Einfachheit halber für immer verinnerlicht hatte, nun aber mit dem „neumodischen“ Kram diffizilerer Beurteilungen in dem bunter gewordenen Leben ohnehin nicht zurecht kam - der konnte mit Genugtuung konstatieren, daß er in dem Katheschen Anhang ohne jede Bearbeitung des Wortlauts dessen Position von 1976 vorfand, keinerlei Bezug auf die oben angeführten Verlautbarungen in „Forum“ und „Einheit“ hergestellt war und Mittenzweis Biographie von Friedrich II. in der beigegebenen Literaturliste vergeblich gesucht wurde. Diese antwortete, hilfreich unterstützt von Erika Herzfeld, ohne vordergründige Polemik auf den faktischen Affront mit einem üppig ausgestatteten Text-Bild-Band zum Thema „Brandenburg-Preußen 1648-1789. Das Zeitalter des Absolutismus“, der 1987 Furore machte und in den Buchhandlungen als „Bückware“ eingeordnet wurde - Titel, die nur über die Bekanntschaft mit einem Buchhändler zu erhalten waren, der die wenigen zugeteilten Exemplare unter dem Tresen für bevorzugte Kunden reservierte.

So war in der Endphase der DDR das dort verbreitete Preußenbild keineswegs so uniform geprägt, wie man das heute gern annehmen möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gab es aber gewichtiges historisches Verständnis für ein widersprüchliches Gesamtphänomen, und die mentale Einstellung eines erheblichen Teils der am Erbe interessierten Bevölkerung zum Problem „Preußen" war vielleicht doch in höherem Maße sensibilisiert als in der alten Bundesrepublik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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