Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Ein Lügenbaron aus Seattle

James Thayer: Der Jahrhundertmann
Roman.
Aus dem Englischen von Otto Bayer.
Scherz Verlag, Bern 2000, 448 S.


Der Autor lebt und arbeitet als Anwalt in Seattle, im äußersten Nordwesten der USA, gegenüber dem kanadischen Vancouver am Pazifik. Der Mann kann schreiben, dies ist sein achtes Buch (bei Scherz 1995 verlegt: Unter Wölfen). Ein Autor mit blühender Phantasie, der einen ungewöhnlichen und höchst unterhaltsamen Roman zu bauen weiß. Er ist ein rechter Lügenbold, ein Lügenbaron aus Seattle wie weiland Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720-1797) aus Bodenwerder im Weserland. Mit dem Unterschied, daß Münchhausen seine Geschichten nicht aufgeschrieben hat. Er soll sie erzählt haben. Vielleicht ist wenigstens dies wahr.

Das Leben des Barons ist abenteuerlich gewesen, das steht fest. Und er soll, aus fremden Ländern zurückgekehrt, im Freundeskreis unglaubliche Begebenheiten erzählt haben. Hans Albers, auf einer Kanonenkugel reitend, hat ihm ein filmisches Denkmal gestaltet. Eine erste Sammlung angeblich von Münchhausen stammender Geschichten ist in deutscher Sprache 1781-1783 im Vademecum für lustige Leute erschienen. Der emigrierte Kasseler Bibliothekar Richard Erich Raspe hat eine erweiterte Sammlung mit 17 Histörchen 1875 in Oxford herausgegeben. Sie wurde von Gottfried August Bürger ins Deutsche rückübersetzt, um 13 Abenteuer erweitert und in 1. Auflage 1786 veröffentlicht: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Ein Volksbuch, heute würde man Bestseller sagen, die 2. Auflage erschien 1788. So weit die denkbare Vorlage für einen Roman zu Beginn des Jahres 2000.

James Thayer hat in jeder Hinsicht ein Original geschaffen. Wir wissen nicht, ob er von Münchhausen weiß. Vorstellbar ist es. Weder er noch der Verlag beziehen sich jedoch auf den Lügenbaron oder seine literarischen Aufbereiter Raspe und Bürger. Sie hätten es tun können - mit einer solchen Vorlage wird niemand sein Gesicht verlieren. Thayers 23 Geschichten des US-Amerikaners Woodrow Lowe, von diesem selbst erzählt, stehen jedenfalls in der Tradition des großen Vorbilds, was Grundidee, Aufbau, Zuschnitt, exotische Schauplätze betrifft. Sie sind dennoch vollkommen eigenständig. Der Erzähler Lowe ist kein Münchhausen, ist ein - zunächst junger - Mann aus einfachen, fast anrüchigen Verhältnissen. Seine Übertreibungen aber sind etwas verfeinert gegenüber denen des Barons, sind der Wahrscheinlichkeit etwas angenähert. Sie sind mit echten historischen Figuren angereichert, mit Ironie und manchmal beinah grobem Spott versehen. Der Autor will sich einen Jux machen, auch mit der US-amerikanischen Gesellschaft von heute, natürlich nur indirekt, durch die Blume. Er macht sich einen Jux zur Freude des Lesers.

Originell ist die knapp gehaltene Rahmenhandlung, wie der Autor überhaupt zu Gunsten seiner Geschichten auf jede Weitschweifigkeit verzichtet, ohne jedoch an den ebenfalls unglaublichen, dennoch recht glaubhaften Details zu sparen. Das ist also eine kurze Vorrede: Ein Fotoarchivar - nein, kein Kasseler Bibliothekar - entdeckt im neuzeitlichen Washington auf historischen Fotos direkt neben Personen der Zeitgeschichte einen Mann, den niemand kennt, stets denselben Mann. Er stöbert ihn schließlich auf - den inzwischen 108 Jahre alten Lowe, und bringt ihn dazu, jene 23 Abenteuer seines Lebens zu erzählen. Auf diese Vorrede folgen die Abenteuer. Und im Nachwort begegnen wir noch einmal dem Uralten, der mit einer unglaublichen Wette von seinem Chronisten und der Welt Abschied nimmt, mit einer letzten Geschichte, die wiederum unglaubwürdig ist und dennoch wahr, sofern man dem Lügenbaron James Thayer aus Seattle glauben möchte.

Die Geschichten sind allesamt köstlich. Die Schauplätze - von den USA über Kuba und den Sudan bis nach China zur Zeit des Boxeraufstandes - sind bunt, mit üppigem Lokalkolorit. Die Übertreibungen halten sich unterhalb der Kanonenkugel des Münchhausen und seiner eigenhändigen Rettung mit Pferd aus dem Sumpf. Sie sind saftig und bisweilen drastisch, werden aber mit so viel hintergründigem Humor und frappierender Blauäugigkeit vorgetragen, daß sie den Leser immer wieder schmunzeln lassen oder zum Lachen bringen, je nach Temperament. James Thayer teilt auch zeitkritische Seitenhiebe aus, etwa wenn er beschreibt, wie ein US-Militärarzt schon 1889 für seine Experimente Soldaten der Army benutzte, darunter natürlich unser ständig in Schwierigkeiten kommender Jahrhundertmann. Oder wenn dem inzwischen steinalten Lowe von Richard Nixon (US-Präsident von 1969 bis zum unehrenhaften Abgang 1974) eine Medaille angeheftet wird: „Ich dachte, Nixon will mir meine Armbanduhr klauen!“ Der schönste Gag besteht darin, den vielfach geschundenen Lowe zum kostenlosen Diener-Corporal von Theodore Roosevelt (1858-1919) zu ernennen, mit dessen echtem Rauhreiter-Regiment er in den echten spanisch-amerikanischen Krieg zieht, wo der Lügenbold zum wahren Helden wird. Eine gelungene Parodie auf Teddy Roosevelt: „Er lächelte - mit Zähnen, auf die ein Pferd stolz gewesen wäre.“

Erstaunlich nicht zuletzt die Fähigkeit des Autors, seine Geschichten zu steigern, ihnen immer noch einen Schuß mehr Dramatik zu geben. Wenn man denkt, nun hat er keine Trümpfe mehr, nun dürfte es bald langweilig werden - schon holt er ein neues As aus dem Ärmel. Auf den Kampf mit einer riesigen Anakonda folgt ein Dasein als Sexsklave bei den Amazonen vom Amazonas einschließlich Anleitung zum Herstellen von Schrumpfköpfen. So geht es temporeich weiter, immer ein Quentchen mehr Münchhausen, bis dann eine recht gegenwartbezogene Geschichte den Abschluß bildet: Der gelernte Boxer, selbstverständlich ein gebürtiger Ire, unser Held Lowe also schickt ein Schmarotzer-Pärchen aus der feinen Gesellschaft finanziell auf die Bretter. Dabei saniert er sich mit Hilfe seines chinesischen Dieners und Finanzberaters, wird selbst zum Millionär. Ende gut, Moral gut. Der Lügenbaron hätte seine Freude an diesem Nachfahren, der ihm an Unglaublichkeit keineswegs nachsteht und sie noch mit mildem Spott sowie einem Schuß Gesellschaftskritik serviert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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