Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


Das Detail und das Unwirkliche

Gerhard Roth: Der Berg
Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 307 S.


Der Österreicher Gerhard Roth, dessen Werk - im Mittelpunkt der siebenbändige Romanzyklus Die Archive des Schweigens - bei S. Fischer verlegt ist, erweist sich mit diesem Buch erneut als ein Meister des Details, darauf versessen oder darin verliebt, wahrscheinlich trifft beides zu. Mit anderen Sujets und an anderen Orten hundertfach wiederkehrend sind Schilderungen wie diese von einem zufälligen Gang durch einen griechischen Fischmarkt:

„An den Ständen hingen überall Büschel von Einwickelpapier, manche Holzkisten waren ganz mit Zeitungsseiten ausgeschlagen, und dort, wo die Ware bereits verkauft war, hatten die Fische und das Eis die Artikel mit Nässe und Körpersäften imprägniert, so daß sie gelb geworden waren wie von Urin. Die getrockneten Zeitungsseiten waren faltig und steif geworden, und die Buchstaben und Bilder darauf sahen verzerrt und verbogen aus ...“

Roth führt die Leser auf einen Berg und läßt sie die vergängliche, schon zerfallene Herrlichkeit religiöser Kultur schauen, die vor einem Jahrtausend geschaffen wurde. Gemeint ist Athos, der Heilige Berg (griech. Hagion Oros) auf der griechischen Halbinsel Chalkidike, genauer: auf der östlichsten der drei fingerförmig vorspringenden Landzungen, wo sich zwanzig orthodoxe Klöster befinden.

Geschildert wird die Reise eines Wiener Journalisten, der sich von Thessaloniki in die autonome Mönchsrepublik Athos begibt, um dort nach einem serbischen Dichter zu suchen, der Zeuge eines Massakers während des Bosnien-Krieges sein soll und sich versteckt hält. Offenbar hat er Furcht, von serbischer Seite mundtot gemacht zu werden, oder er hat andere Gründe, nicht aussagen zu wollen. In Istanbul schließlich findet der Journalist den vermeintlichen Zeugen, der jedoch trotz tausend Dollar Anzahlung im Grunde nichts mitzuteilen hat. Die Tour endet in Wien. Ihr Ergebnis ist ein braver Reisebericht ohne die erhoffte Enthüllung eines Kriegsverbrechens. Der Alltag hat den gescheiterten Investigator wieder. Roth läßt zwischen den Zeilen erkennen, daß er diese Art von Berufsausübung wenig schätzt.

In Thessaloniki findet der Journalist, über den Roth wie ein unparteiischer außenstehender Beobachter berichtet, seinen ersten Informanten ermordet vor, worauf der wißbegierige Österreicher von der griechischen Polizei ins Visier genommen wird. In den folgenden Tagen setzt ein obskures Verwirrspiel ein, offenbar mit dem Ziel, ihn von der Suche nach dem Dichter abzubringen. Die Akteure bleiben im dunkeln. In Istanbul gibt es ein weiteres Todesopfer aus dem Umfeld des Gesuchten.

Aus diesen Vorgängen könnte man schließen, es handele sich um einen Kriminalroman oder einen sogenannten Politthriller. Tatsächlich entzieht sich das Buch der Einordnung in Schubfächer. Gerhard Roth bietet anspruchsvolle Literatur sui generis. Seine eigene Art besteht darin, den Leser in eine Welt zwischen Sein und Schein zu führen, wo die wirklichen Vorgänge eine verborgene Bedeutung bekommen und unwichtige Vorkommnisse im Kopf des Journalisten eine unwirkliche Atmosphäre erzeugen. Ein Gefühl latenter Bedrohung, wenn auch vielleicht nicht lebensgefährlicher Art, teilt sich dem Leser unmerklich mit. Der Autor verstärkt es, läßt es für einige Zeit abklingen, während die sparsame Handlung fortgesetzt wird. Plötzlich stellt es sich wieder ein, da eine neue undurchsichtige Situation entsteht. In diesem Spiel mit einer subtilen, gleichsam unterschwelligen Spannung liegt die Faszination, die von dem Roman ausgeht. Er stellt zunächst hohe Ansprüche an den Leser und belohnt ihn mit einem literarischen Erlebnis, sobald er sich in die Welt eingesponnen hat, die da mit einer Fülle von Miniaturen geschaffen wird.

Roth vermeidet Werturteile und jeden Anflug von Belehrung oder weltanschaulicher Parteinahme. Erkennbar wird seine humanistische Grundhaltung. Er beschreibt mit kleinen, oft winzig und nebensächlich erscheinenden Einzelheiten, wie ein Journalist mit seinen individuellen Methoden der Recherche sich in fremdem Land bewegt und was ihm widerfährt, vielleicht zufällig, vielleicht determiniert. Der starke und bleibende Eindruck, den das Buch vermittelt, entsteht nur zu einem Teil aus der verdichteten Handlung. Er ist vor allem das Ergebnis einer Mischung von Detail und Unwirklichem. Sie erinnert am ehesten an Kafka. Das Schloß und Der Berg erscheinen verwandt.

Das sorgfältig ausgestattete Buch enthält eine stilisierte Landkarte, die den Zugang zu Roths Geschichte ein wenig fördert. Leser, die keine religionsgeschichtlichen oder kunsthistorischen Spezialkenntnisse haben, würden wohl eher einen kleinen Anhang mit der Erklärung von Fachbegriffen zu schätzen wissen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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