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Künstlerinnen in Berlin

Gertrud Kolmar (1894-1943)


Die Dichterin Gertrud Kolmar gehört zu den bedeutenden Stimmen in der deutschen Lyrik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu ihren Lebzeiten war nicht viel von ihr veröffentlicht. Viele kennen ihren Namen auch heute nicht, obgleich seit den fünfziger Jahren zahlreiche Publikationen von und über Gertrud Kolmar erschienen. Besonders in den letzten zwanzig Jahren haben sich engagierte Literaturwissenschaftlerinnen um die Erschließung von Gertrud Kolmars Werk bemüht. (Vgl. etwa: Marion Brandt: Schweigen ist ein Ort der Antwort. Eine Analyse des Gedichtszyklus Das Wort der Stummen von Gertrud Kolmar, Berlin 1993.) In beiden deutschen Staaten entstanden anspruchsvolle Lyrikausgaben. Eine Personalausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach (wo der Nachlaß Gertrud Kolmars liegt), die 1993 auch im Literaturhaus Berlin gezeigt wurde, machte nachdrücklich auf die Dichterin aufmerksam. Johannes Bobrowski widmete ihr sein Gedicht
„Gertrud Kolmar“ in der Sammlung Schattenland Ströme (1962): „Dort ist eine gegangen, / Mädchen mit glattem Haar, / die Ebene unter den Lidern / lugte herauf, in den Mooren / vertropfte der Schritt.“

Geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin als älteste Tochter des erfolgreichen jüdischen Rechtsanwalts und späteren Justizrats Ludwig Chodziesner, wuchs das Mädchen in wohlhabenden Verhältnissen im Villenvorort Westend auf. Die Mutter Elise, geb. Schoenflies, aus einer märkisch-jüdischen Kaufmannsfamilie stammend, hat ihrer Tochter die Liebe zu den schönen Künsten vererbt. Auf den Kinderfotos von Gertrud Kolmar erkennt man ein großäugiges, ausnehmend schönes, aber scheues Mädchengesicht. Darin zeigt sich schon früh jener Wesenszug Gertrud Kolmars, der sie vereinzelte - sie selbst nennt sich immer wieder „Die Fremde“, „Die Andere“, „Die Einsame“. Sie ist eine Cousine Walter Benjamins, beider Mütter waren Schwestern. In ihrem Kunstverständnis bildet sie sich weitgehend autodidaktisch aus. 1915/16 besucht sie ein Sprachlehrerinnenseminar in Berlin und erwirbt das Diplom für Englisch und Französisch, erlernt auch Russisch und arbeitet ab 1919 einige Jahre als Erzieherin in verschiedenen Privathäusern. Gleichzeitig schreibt die junge Frau.

Für ihre erste Publikation, ein Bändchen Gedichte (1917 bei Egon Fleischel & Co. Berlin), wählt sie erstmals das Pseudonym Gertrud Kolmar (was sich von dem Ort Chodziez in Posen herleitet, woher die Vorfahren ihres Vaters stammen). 1934 erscheint ihr Gedichtzyklus Preußische Wappen und 1938 der Band Die Frau und die Tiere. Die intensive Beziehung der Dichterin zur Natur, zu Pflanzen und insbesondere zu Tieren, spricht aus vielen ihrer lyrischen Werke. „Worte möcht ich, die so einfach sind / Wie ein Sonnenglanz, wie Wald und Wind.“ („Stolz“)

Eine stark empfundene Liebesbeziehung hat die junge Frau tief aufgewühlt, doch es war eine unerwünschte, unerlaubte Liebe, und sie endete mit einer Abtreibung. Gertrud
Kolmar muß dieses Erlebnis als eine schwere Prüfung und Niederlage, als Demütigung empfunden haben. Fortan wird Liebe als Sünde ein wiederkehrendes Thema ihrer Lyrik (vgl. „Opfergang“). Sie bewältigt alle ihre Wirklichkeitserfahrungen nur noch in der Literatur.

Zwischen 1930 und 1931 schrieb Gertrud Kolmar ihren einzigen Roman, Die jüdische Mutter. Er wurde 1965 erstmals aus dem Nachlaß publiziert, unter dem Titel Eine Mutter. 1999 ist er im Wallstein-Verlag Göttingen wieder unter seinem Originaltitel erschienen. Eine seltsam suggestiv wirkende Prosa, eindringlich und bedrückend zugleich die Geschichte. Martha Jadassohn, durch eine Liebesheirat mit Friedrich Wolg verbunden, wird früh Witwe und lebt zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter Ursula. Doch bereits die kurze Ehe war überschattet von der Ablehnung durch die Familie ihres Mannes - die junge Frau schien ihnen die Stärkere, unerlaubt Dominierende. So projiziert sich alle Lebenssehnsucht der Witwe nun auf die geliebte kleine Tochter. Da geschieht ein Unglück, Ursula verschwindet, die Mutter sucht verzweifelt einen ganzen Abend, die Nacht hindurch und findet das mißbrauchte, geschändete Kind am nächsten Morgen halbtot in einer alten Gartenlaube. Am Krankenbett der Kleinen wird der Mutter bewußt, daß ihre Tochter, selbst wenn sie physisch überlebt, lebenslang an ihren seelischen Verletzungen leiden und traumatisiert bleiben würde. So entschließt sie sich, das ihr Liebste zu erlösen, und tötet das Kind mit einer Überdosis Schlaftabletten. Fortan gibt es nur noch einen Antrieb im Leben der Mutter: Rache zu nehmen an dem Mann, der ihr Kind vernichtet hat. In Die jüdische Mutter hat Gertrud Kolmar neben tradierten jüdischen zugleich Motive des antiken Medea-Mythos adaptiert, und zwar als erste Frau in der langen Geschichte der Medea-Bearbeitungen. Aus dieser weiblichen Perspektive auf die alte Sage legt sie ungewohnte Handlungsmotivationen der ihr Kind tötenden Frau frei. Autobiographische Leidensmuster sind darin nicht zu übersehen. Gertrud Kolmar überhöht und verdichtet ihre Prosa jedoch zu einem Substrat menschlichen, weiblichen Leidens überhaupt. Die Gedanken der Mutter am Bett des Kindes sind von gesteigerter Expressivität: „[...] statt dessen dieses Grauenhafte ... Zerreißen ... erschlagen noch lebendes Kind ... Gott! Sie grub das Gesicht in die Hände. Tränenlos. Sie deckte die Augen nur zu. Fort. Sie wollte nichts sehn. Aber das Schrein ... das Schreien ...“ Der Gestus der Lyrikerin bestimmt auch Stil und Tonfall ihrer Prosa. Mutter-Kind-Metaphern bleiben weiterhin in ihrer Lyrik präsent.

Der Wallstein-Verlag Göttingen setzt sich seit Jahren nachdrücklich für das Werk von Gertrud Kolmar ein. Johanna Woltmann, Autorin der repräsentativen Kolmar-Monographie, gab 1997 auch den Band Briefe der Dichterin heraus. Hauptteil dieser gut kommentierten und mit einem informativen Nachwort versehenen Edition sind die Briefe Gertrud Kolmars an ihre jüngste Schwester Hilde, mit der sie eine besondere Zuneigung verband. Ihr gegenüber kann sie sich am stärksten öffnen, ihr vertraut sie, nachdem Hilde Wenzel zusammen mit ihrer Tochter in die Schweiz emigrieren konnte, nicht nur zahlreiche Informationen über ihren Alltag in Berlin an, sondern auch über ihre psychische Verfassung. Der Schwester offenbart sie ihr Innerstes. An der 1938 geborenen Tochter Sabine ihrer Schwester hat Gertrud Kolmar sehr gehangen. In ihr sieht sie beinahe so etwas wie das Kind, das sie selbst hätte haben können. So sind einige der Briefe in einem wunderbar heiteren, ja beinahe schelmischen Ton an das Mädchen gerichtet.

Diese Briefe aus den späten dreißiger Jahren bis unmittelbar zu ihrer Deportation nach Auschwitz im Februar 1943 sind ein überaus wichtiges autobiographisches Dokument der Dichterin. 1970 erstmals veröffentlicht, erschienen sie nun im Wallstein-Verlag in zweiter, erweiterter Ausgabe. Zur Erweiterung gehören vor allem Gertrud Kolmars Briefe an Walter Benjamin sowie an den jüdischen Autor Jacob Picard. An ihn, der sich frühzeitig für ihre Gedichte einsetzte, schrieb sie, daß sie sich zwar als Dichterin fühle, jedoch das große künstlerische Ringen anderer Dichter eigentlich nicht gekannt habe - „ich habe bloß immer darum gekämpft, eine starke und gütige Frau zu werden“.

Ab 1938 lebte Gertrud Kolmar, nachdem alle anderen Angehörigen sich bereits ins Ausland retten konnten, allein mit dem alten Vater in Berlin, zunächst im geräumigen Haus der Familie in Finkenkrug bei Falkensee, später in einer zugewiesenen Wohnung mit einer immer steigenden Zahl von Untermietern. Ihre sprichwörtliche Demut, ihr „Wille zum Dienen“, Bescheidenheit, Pflichtgefühl und vor allem die Treue zum gebrechlichen Vater, das alles kommt zusammen, wenn man nach den Gründen sucht, warum Gertrud Kolmar es ablehnte, ebenfalls zu emigrieren. Dennoch spricht sie in den Briefen an die Schwester davon, wie sie unter der Situation zunehmend leidet. Mit anderen, fremden Menschen auf so wenig Raum zusammengepfercht zu sein bedrückt sie. Hinzu kommt die Belastung durch die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, zu der sie ab Juli 1941 verpflichtet wurde. Auch in dieser Zeit entstehen noch Gedichte, vereinzelt zwar, abgetrotzt den Widrigkeiten und Unsicherheiten der schrecklichen Gegenwart. Die Manuskripte wurden von Freunden und nichtjüdischen Verwandten versteckt und konnten so über das Kriegsende gerettet werden, z. B. von Hilde Benjamin, der Frau ihres anderen Cousins Georg Benjamin (die später Justizministerin der DDR war). Auf ihre jüdische Identität wurde Gertrud Kolmar erst durch den verbrecherischen Wahn der Nationalsozialisten verwiesen. In dieser Zeit beginnt sie Hebräisch zu lernen und versucht, sich auch in dieser Sprache lyrisch auszudrücken. 1942 wird der Vater nach Theresienstadt deportiert, im Februar 1943 erfährt Gertrud Kolmar von seinem Tod. Sie selbst wird am 27. Februar 1943 im Verlaufe der sog. „Fabrikaktion“ verhaftet und mit dem 32. Osttransport am 2. März nach Auschwitz deportiert. Seitdem gibt es keine Lebenszeichen mehr von ihr. Zusammen mit ihren jüdischen Schicksalsgenossen muß sie dort ermordet worden sein.

Gertrud Kolmars Lyrik speist sich aus einer weitgespannten Bilderfülle aus Mythos, Geschichte und Traum. Zu ihren schönsten Werken gehören die Zyklen Mein Kind, Weibliches Bildnis, Die Frau und die Tiere. Gedichte mit starkem zeitkritischen Bezug entstehen in dem Zyklus Das Wort der Stummen (z. B. „Wir Juden“). Darin gibt sie den Leiden ihres mißhandelten Volkes, ähnlich wie Nelly Sachs, aber auch der unverblümten Kritik am Nazi-Regime lyrischen Ausdruck. Gertrud Kolmar gehörte keiner der Strömungen in der Lyrik ihrer Epoche an. Vielmehr gilt ihr Werk als das einer bedeutenden Einzelgängerin.

Monika Melchert

Quellen
Gertrud Kolmar: Die jüdische Mutter, Wallstein-Verlag, Göttingen 1999, 222. S.
Dies: Briefe, hg. von Johanna Woltmann, Wallstein-Verlag, Göttingen 1997, 248 S.
Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar - Leben und Werk, Wallstein-Verlag, Göttingen 1995, zahlr. Abb., mit Dokumenten zur Biographie sowie Bibliographie, 356 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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