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Wolfgang Weyrauch

Die dünne Margot

Ich nenne Dich die dünne Margot, so, wie Villon sein Mädchen die dicke Margot genannt hat, und sowenig ich Villon gleiche, soviel unterscheidest Du Dich von seiner Freundin. Sie war dick, und Du bist dünn, ja, dünne Margot, Du bist dünn, daß ich Dich manchmal gar nicht sehen kann. Trotzdem bist Du da, und wie Du da bist: wie ein Hauch der Heiterkeit, der durch alles weht, was es bei uns gibt, durch die Finsternisse des elendsten Staats der Geschichte, damals, als wir in Berlin waren, durch die schwarzen Schatten Kubas, jetzt, zwischen München und Starnberger See, durch die Antworten des Schriftstellers darauf, der versucht, Seismograph und Regenpfeifer zu sein, durch das so nahe und doch entfernte Leben der beiden Töchter hindurch, durch den Zwergenbezirk des vierjährigen Tobias, durch Steuer und Wochenendhuhn.

Aber Du wärst keine Berlinerin, das heißt, Du kämst nicht aus jenem Volk der Deutschen, das sich kein X für ein U vormachen läßt, wenn Du nur ein Hauch wärst und wenn Deine Heiterkeit die Wirklichkeit ausklammerte. Nein, es ist Dir bekannt, daß das Heitere ohne das Wirkliche nicht leben kann, und umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, gewiß nur ein irdischer Schuh, doch wer den bisherigen Augenblick, der vom Immerwährenden umgeben ist, mit schlechtem Schuhwerk und Handwerk und Gedankenwerk durchstreift, mit dem wird es schlecht bestellt sein. Oh, Dir ist noch mehr bekannt, aber woher Du das alles weißt, ist mir wieder unbekannt. Du weißt überhaupt viel mehr als ich, so daß ich gern Du wäre, wenn ich nicht ich wäre.

Am meisten ist Dir von Rommé und Faulkner bekannt, und das zeigt stellvertretend und doch klipp und klar, was Du für eine bist; kein Deutsch, würdest Du jetzt sagen, es muß heißen: was für eine Du bist; kann sein, würde ich antworten, aber wir Frankfurter reden eben so, doch ich wüßte, daß sie wüßte, meine Erwiderung wäre (sei, nicht wäre, würde sie einwerfen) eine Ausrede für meine Unachtsamkeit. Rommé und Faulkner: Du bist des einen und des andern inne, des Spiels und des tödlichen Ernstes, und Du hast mir beides beigebracht, das Lässige soviel, wie nötig ist, und das Eindringliche soviel, wie bei mir möglich ist. Dafür habe ich Dir das Lesen von Kriminalromanen beigebracht, die Du erst verachtetest, und dafür hast Du mich nicht lehren können, daß man Wittwe mit einem T und Brödchen mit T schreibt; wie konntest Du es auch, da Du dich ja irrst; Du mußt dich irren, denn ein Schriftsteller weiß dergleichen besser als die Frau eines Schriftstellers; immerhin - wir wollen uns, bitte, nicht zanken - hat uns Deine Besserwisserei viel Spaß gemacht, und das wird sie abermals tun, wenn Du dies hier liest; ja, jetzt ist es zu spät für Deine Korrektur, die Du sonst, natürlich ohne mich zu fragen, beim Abtippen eines Manuskripts anzubringen pflegst, und dann muß der Setzer alles wieder in Ordnung bringen.

Thema verfehlt, ruft der Redakteur in diesem Augenblick, wie ein Lehrer, der nicht weiß, daß das Unmittelbare im Mittelbaren enthalten ist. Aber, mein lieber Herr, antworte ich ihm, ich bin die ganze Zeit bei der Sache, bei der dünnen Margot nämlich und bei ihrem Einfluß auf mich und meine Fehler und Vorzüge beim Betrachten der Zustände und Begebenheiten, die uns alle bedrohen oder entzücken, beim Auswählen dessen, was zu schreiben wäre, beim Konzipieren, beim Notieren. Allerdings ist dieses Wirken mittelbar, und Du würdest es zweifellos abstreiten, daß Du mir hilfst, über alle Maßen hilfst; nicht aus eitler Bescheidenheit würdest Du es leugnen, sondern weil du, in welcher Situation auch immer, Dein Licht unter den Scheffel stellst; auch das gehört zu Deiner mittelbaren Hilfestellung. Du hilfst mir, dünne Margot, indem Du teilnimmst, und das ist alles.

Doch alles bedeutet in diesem Zusammenhang nicht das negative Na-ja-und-das-ist-alles, sondern ich meine es im äußersten, positiven und wörtlichen Sinn. Du nimmst teil, an allem, am Praktischen und am Substantiellen. Du stenographierst, Du tippst, Du telephonierst, Du schreibst Briefe, aber Du sorgst auch für Ruhe, wenn die Töchter flitzen oder stapfen, wenn das Mädchen tritratrallala singt oder wenn die Zugehfrau nicht aufhört, Unruhe zu stiften: Schreiben, denke ich, kann man auch inmitten von Spinnweben, ja, vielleicht sogar besser als ohne die Tierchen, absorbiert und frei. Du sparst, indem ich Bleistifte mit einem Gummi daran, besonders flache oder hohe Teetassen und teure und teuerste Pfeifen kaufe, deren Preis ich vergessen habe, wenn Du Dich harmlos oder harmlos tuend danach erkundigst; Du bist nicht geizig, sondern ökonomisch. Du spielst, obwohl Du es nicht ausstehen kannst, die Ehepartnerin, wenn die Verleger „Guten Tag“ sagen; so hast Du einmal, gleich nach dem Krieg, Ernst Rowohlt eine Brotsuppe gekocht, die damals soviel wert war wie heute ein Stiltonkäse, und Otto Walter überzeugtest Du davon, daß ich ein ordentlicher Mensch sei, weil Du es seist, und derart hast Du ihn nützlich hinters Licht geführt. Du hast mich unterstützt, wenn die materiellen Schwierigkeiten überhand nahmen, und das geschah immer wieder, und es wird nie damit aufhören, Gott sei Dank, denn wenn die Schriftsteller nicht taumeln, verzichten sie auf das Äußerste; und davon habe ich Dich nun wieder überzeugt, und selbst davon, daß man einen Schlund herstellen muß, wenn das Los keinen liefert.

Doch ist das nicht alles eher unmittelbar als mittelbar, ich aber schrieb vom Mittelbaren Deiner Teilnahme? Nun, dünne Margot, Deine direkte Teilnahme, ja, Deine direkte Übereinstimmung mit mir ist auf Deinem Da-sein, auf Deinem So-sein gegründet, und das ist im Kern eine radikale Toleranz, die Dich beiseitetreten läßt, wenn es sein muß, die Du aber ebenso radikal verwirfst, wenn es notwendig ist. Du bist insgesamt radikal, den Ausdruck im eigentlichen Sinn verstanden, aus der Wurzel heraus oder die Wurzel suchend und findend, je nachdem. Genug. Und nicht genug. Denn, beim heiligen und irdischen Dickworzphilipp, soviel Lob, so viele Sprüche, wie wir in Frankfurt sagen, ist zuviel Lob.

Irgendeinen Fehler muß Du doch haben, und siehst Du, da ist einer: Wenn ich Dir einen neuen Text zum Lesen gebe, den besten, den ich jemals verfaßt habe, den allerbesten, den einzigen, und neben ihm stürzen alle andern in den Durchschnitt hinunter, wie mir scheint, dann äußerst Du, er sei ganz gut, statt ihn als außerordentlich zu bezeichnen. Zwar weiß ich, daß Deine Zurückhaltung mit Ökonomie und Scheffel zu tun hat, doch ist Dein Scheffel mein Scheffel? Ich kann es Dir nicht verzeihen. Oder wirst Du in diesem Fall ausnahmsweise Deine Ökonomie aufgeben und mich zum Verzicht meines Zorns zwingen?

Spruch

Die Lerche droben sternenhaft,
die Gräser unten, grün im Saft,
der sanfte Wind, der jene wiegt,
und diese biegt und hebt und biegt,
der Mond, in Finsternis der Nacht,
die Sonne, die den Tag entfacht,
das winz’ge Kind, in Harmonie,
Johann Sebastians Melodie,
des Menschen einzig Angesicht,
zwei Zeilen Goethesches Gedicht,
das Mädchen, tausendfältig schön,
Gedanken tausendfacher Föhn,
Umarmung, Elend, heitrer Tod,
des Grabes Wurm, das schiere Brot,
Entzücken, Reue, schäumend Leid,
Gebet, tief in der Einsamkeit -
die namenlose Addition,
o Mensch in Schrei und Wüstenei
weht dir die Seligkeit herbei,
weht dich zur Seligkeit davon.

Berlin I

Berlin,
das ist z. B. das Leben des Botenjungen
in unserer literarischen Zeitschrift,
unsres 17jährigen Bernhard Lucius:
sein Vater ist seit 1943 vermißt,
damals, als Aufklärer, worin er Beobachter war, kreiste,
und der Obergefreite Lucius mit dem Fallschirm
über einem Wald absprang, unten aber
nahmen ihn Pioniere gefangen;
Bernhards Mutter aber verschwand,
als Bernhard und sie und tausend andre
über das Meer wanderten, das zugefroren war,
plötzlich aber brach das Eis,
Bernhard Lucius war da, die Mutter war dort,
Bernhard wimmerte, Frau Lucius schrie,
dann trieb die Scholle mit der Mutter
und 500 Schreienden nach Norden;
jetzt aber wohnt Bernhard bei einer Tante,
Berlin-Weißensee, Berliner Straße 89, Seitenflügel,
morgens fährt er mit der Untergrundbahn
nach Dahlem, es ist 7 Uhr früh,
aber er schläft nicht, er arbeitet,
auf dem linken Oberschenkel liegt ein Buch,
auf dem rechten ein Heft,
Bernhard überträgt aus dem Buch ins Heft,
das Buch handelt von den Bäumen,
vom Kahlschlag, von Saatkamp und Jungholz,
denn Bernhard will Förster werden,
und in anderthalb Jahren wird er geprüft,
ja, Förster wird er, oder Dichter,
oder auch beides, jedenfalls ist er fleißig,
Gedichte schreibt er, beispielsweise
einen Gesang vom armen Pferdchen,
das den Wagen nicht mehr ziehen kann,
weil es so klein ist, der Wagen aber so groß,
von den Bäumen schreibt er ins Heft,
und unsre Pakete und Manuskripte und Bilder
trägt er quer durch Berlin,
so lange, bis er die Prüfung bestanden hat;
um 8 Uhr ist er da, sofort
pumpt er das Rad auf und radelt
zum Zeichner, der vergaß, das Bild
für das Sonderheft abzuliefern,
tritt an, prescht davon, gesellt sich
den 10 000 übrigen Radlern,
hei, ihr Rufer, Jauchzende ihr,
Zeitungsjungen, Blitzfahrer, Schüler,
die ihr den Mädchen zuruft:
kommst du auf den Sattel, Kind,
oder willst du auf die Lenkstange;
ihr Zentauren der Städte mitteninne
zwischen dem armen Fußgänger und dem
strotzenden Autofahrer, wer aber am reichsten ist,
entscheide du, Leser, wahrscheinlich ist’s der,
der die Erde unter den brandigen Sohlen hat,
auch wenn die Erde Asphalt ist,
gequollener Asphalt, geschundener Asphalt,
worin die Blindgänger noch stecken,
ihr Getriebe stößt an unseren Fuß,
vom Fuß saust die Berührung ins Herz,
in den Gedanken, ach, der Mensch
in Berlin, in allen Städten Europas,
setzt sich mit dem Krieg auseinander,
und vergißt er ihn, weil er sich fürchtet
oder träge ist oder töricht, streift ihn
der Schaft der Granate, der Hauch des Hauses,
das kein Haus mehr ist, sondern das Gespenst
eines Hauses, oder das Grab eines russischen Soldaten
erscheint, weit ist der Weg zurück ins Heimatland,
so sangen 1939 bis 1945 die Radfahrer,
Autofahrer und Fußgänger, auch Bernhard Lucius;
ach, Russe, ach, Deutscher, Indianer vom Huronengebirge,
Jude aus Minsk, Bäuerin aus Chartres,
Omnibuschauffeur aus Southampton,
ihr alle seid in Berlin, seid lebend da,
seid zugleich tot da, eure Brüder, Väter, Söhne
begleiten euch, dein Vater sitzt mit dir auf deinem Rad,
Bernhard, bläst dich an, fühlst du es wehn,
greinst du nicht, Kind, lachender Rufer
zum Mädchen im Pepitakleid,
weine, weine, weine ja, lache, gut,
aber vergiß die Träne nicht, deine Bäume
sind umsonst, wenn du nicht weinst,
dein Gedicht vom Pferdchen, deine Prüfung,
ach, ich weiß ja, du arbeitest;
ihr alle arbeitet, ihr Berliner Männer
und Frauen, Kinder, Greise, Studenten,
BVG-Chauffeure, Hausfrauen, Fräserinnen,
wenn der Hahn kräht, beginnt ihr,
wenn die Eule streicht, hört ihr auf,
selbst in der Nacht kümmert ihr euch darum,
wie ihr eure Schiffe entladet, wie ihr
die Schornsteine fegt, die Leberkranken heilt,
aber ich weiß auch, daß ihr niemals die Haut
und das Haar eurer Freundinnen und Frauen
vernachlässigt, und auch die Gedanken nicht,
denn ihr seid Philosophen, ihr gründet
die irdische Ordnung neu, ihr sinnt
über die Schuld, über den Krieg, über den Wahn,
Gott, Gerechtigkeit und über den Widerstreit
zwischen dem Bedürfnis des Lebens,
daß der Mensch schlecht werde,
und dem Willen des Menschen,
daß er gut bleibe;
ihr grübelt, und ihr entscheidet
in euch und versucht, die Entscheidung
in den Alltag zu säen, so seid ihr
Samariter, Propheten, Ärzte, Lehrer,
herrliche Leute, oh, böse seid ihr auch,
wetterwendisch, ihr wißt es selbst,
aber ihr, die ihr in den Pfützen geht,
blickt zugleich zu den Sternen empor,
und zugleich haltet ihr die Lenkstange,
so, wie Bernhard Lucius, unser Bote,
tretet die Pedale, stürzt vom Rad,
flickt den Mantel, versucht die neue Fahrt,
es geht, es geht, Achtung, Freunde, die Kurve,
die Böschung, der Gebirgsbach, darüberweg,
drüberweg, ihr schafft es, ihr Nimmermatten,
ihr Nimmerverzweifelten, ihr Tumultuarischen,
Engel ihr, Teufel, Menschen ihr
des sengenden, versengten, knirschenden,
zerknirschten Berlins, Bernhard Lucius unter ihnen,
Bäume gliedernd,
jener mit der winzigen Tochter spielend,
dieser Bach hörend, brausenden Bach,
ein vierter über Hölderlin denkend,
der fünfte über Marx und Lenin,
der sechste im Kolonialwarenladen Heringe verkaufend,
der siebente Mülleimer kippend,
ein achter Ziegel deckend,
ein neunter was weiß ich tuend,
alle versammelt zum stolzen Plan,
daß die Stadt, die geliebte,
phosphoresziere vom Feuer der Inbrunst,
von der Flamme der hymnischen Gewißheit,
gut zu werden, das Gute den Kindern mitzuteilen,
den liebsten Enkeln des vermaledeiten Jahrhunderts.

Empfehlung

Ich empfehle,
ein Grab zu graben,
Grab der Vorwegnahmen,
Grab ohne Samen,
nach der Kehle
hacken die Raben,
Raben, ätzendes Gefieder,
Raben, aus Tritiumhimmel nieder,
ehe ich bis eins zähle,
wird keiner ein Haus haben,
Haus der Harmonie,
Haus, für Dich, mich, es, ihn, sie.

Der Literat

der Literat zum Literaten:
nimm Kurs aufs Buch,
das Du ist ein Akzent,
schau rund, schau neu,
allein der Spießer pennt,
die Wörter aber sind die Taten.

Alle Rechte an den Texten bei Margot Weyrauch


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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