Rezension von Dorothea Körner



Die Elbe und ein leeres Boot

Siegfried Lenz: Arnes Nachlaß
Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 207 S.
 

Siegfried Lenz ist ein großer Erzähler und - wie mir scheint - ein großer Liebhaber der Seefahrt. In seinem neuen Roman, der am Hamburger Hafen auf dem Gelände einer Abwrackwerft spielt, schildert er die Welt der Schiffe, indem er deren Entsorgung beschreibt. Schneidbrenner zerlegen die Schiffsrümpfe, in einem Fallturm werden die Metallteile mit Hilfe einer großen Kugel „platt gemacht”. Buntmetall wird in einer Gießerei geschmolzen, ausgemusterte Boote, Bojen und Seezeichen liegen auf dem Gelände, dazu kommt ein Warenlager, in dem von Wolldecken und Rettungsringen bis zum Schiffskompaß alles gestapelt und verkauft wird, was beim Ausweiden der Schiffe noch verwendbar erscheint. Diese Werft, der nahe Hafen und - stromaufwärts - die Flußlandschaft der Elbe sind im Roman immer präsent.

Siegfried Lenz erzählt von der Familie des Werftbesitzers, die auf dem Gelände „an diesem entlegenen Hafenbecken” wohnt. Von den drei halbwüchsigen Kindern, die hier zusammen mit ihren Freunden recht „kurzweilig” leben. Der Roman beschreibt einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren, er setzt ein, als der zwölfjährige Arne, der Sohn eines befreundeten Schiffsbesitzers, ankommt und in der Familie an Kindes Statt aufgenommen werden soll. Hans (17 Jahre), Wiebke (14 Jahre) und Lars (etwas jünger) „hängen” am Fenster und taxieren den Neuankömmling.

Siegfried Lenz erzählt aus der Retrospektive, aus der Sicht von Hans, der mit Arne das Zimmer geteilt hat und ihm am nächsten stand. Hans packt eines Abends - etwa drei Jahre nach Arnes Ankunft - dessen Nachlaß zusammen. „Wie gegenwärtig er wurde durch die Dinge, die ihm einst gehört hatten; ich brauchte nur etwas aufzunehmen, unters Licht zu halten, da hörte ich auch schon seine leise Stimme, und manchmal glaubte ich, seinen Atem an meinem Hals zu spüren, es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte seinen Namen genannt, ihn angesprochen”, denkt Hans. Während er Arnes Eigentum sichtet und sortiert - ein Auftrag seines Vaters, der die gesamte Familie belastet -, erinnert er sich an verschiedene Ereignisse, die mit diesen Gegenständen verknüpft waren. Auch sein Vater und seine Geschwister erscheinen an diesem Abend - einzeln -, in seinem Zimmer, das einer Schiffskajüte gleicht, und steuern ihre Erinnerungen und ihre Rechtfertigung des Geschehens bei.

Siegfried Lenz erzählt die Geschichte eines Außenseiters, eines Jugendlichen, der verzweifelt um die Freundschaft der Gleichaltrigen wirbt, aber ausgegrenzt wird und an deren Gleichgültigkeit zerbricht. „Du weißt nicht, wie oft wir es mit ihm versucht haben, er war eben anders, mit ihm konnte man nichts anfangen, das meinten alle”, rechtfertigt sich die sorglose, allseits umworbene Wiebke. Und Lars, der noch im nachhinein dem bedingungslosen Zusammenhalt in der Clique nachtrauert, konstatiert kalt: „... er paßte nicht zu uns.” Arne, kindlich phantasievoll und gleichzeitig über sein Alter hinaus reif - sein Vater hatte aus Verzweiflung über seine Verschuldung sich und die gesamte Familie umgebracht -, hochbegabt für Fremdsprachen, aber auch schüchtern und manchmal psychisch gehemmt, zeichnet sich durch Zutraulichkeit und eine große Sensibilität für andere Menschen aus, die am ehesten von den Sonderlingen auf der Werft erwidert wird, etwa dem estnischen Schiffsingenieur Kalluk, mit dem er finnisch parliert und der ihn im Knüpfen einer peruanischen Knotensprache unterweist. Originale wie diesen Kalluk, der auf der Werft als Nachtwächter angestellt ist, oder Hansens Vater, der stundenlang am Bett des schwerkranken Arne sitzt, mit „diesem krummen Körper, der sich in vollkommener Ruhe hielt, in Ergebenheit”, schildert Lenz am überzeugendsten.

Arne, der seiner ausgezeichneten Leistungen wegen zwei Jahrgänge überspringen soll und zunächst in der Klasse von Wiebke landet, „mauert”, läßt sich schulisch zurückfallen, um in ihrer Nähe zu bleiben. Mit Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft, heimlichen Geschenken und großzügigen finanziellen Beiträgen versucht er, ihre Sympathie und die der Clique zu erwerben - was ihm am Ende zu gelingen scheint. Anrührend schildert Lenz Szenen, in denen sich Arne angenommen fühlt und glücklich ist, so beim Würfelspiel mit den „Geschwistern” zu Silvester oder dem verschwörerischen Kneipenbesuch, als die Freunde ihn gegen einen Randalierer verteidigen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Lenz die Darstellung der Jugendlichen geglückt ist, die ich mir individueller, psychologisch reicher angelegt gewünscht hätte. Ich habe mich auch gefragt, ob das Psychogramm Arnes überzeugt. Sind Hochbegabung und der Tod von Eltern und Geschwistern - die übrigens von Arne so gut wie nie erwähnt werden - nicht etwas zuviel an Außenseitertum? Ist Arnes Unsportlichkeit, die einen Klassenkameraden zu einer hinterhältigen Schikane provoziert, nicht beinahe ein Klischee? Ist Arne wirklich an seiner Arglosigkeit, dem Nichtbefolgen gewisser gruppeninterner Spielregeln, zugrunde gegangen, wie Lenz in einem Interview behauptet hat? Waren es nicht eher innere Einsamkeit und Heimatlosigkeit, die zeitweise „Verlorenheit seines Blicks”, die diesen Jungen so freundschaftsbedürftig, so labil und verletzlich machten, daß er die Ablehnung der Gleichaltrigen nicht mehr ertrug? „Du glaubst es mir nicht, aber ich mochte Arne, zuletzt mochte ich ihn immer mehr, zuletzt habe ich gemerkt, daß er auch fröhlich sein kann und übermütig...”, gesteht Wiebke ihrem Bruder Hans. War Arne den Gleichaltrigen also nicht einfach durch seine fehlende Unbeschwertheit fremd? Ging er nicht daran zugrunde, daß er ihre Spielregeln - zeitweise - übernahm?

Die hier geschilderten Jugendlichen hätten in den 50er oder 60er Jahren leben können, ihre Sozialisation entspricht nicht eindeutig den 90er Jahren. Schule, Familie und die Clique bestimmen ihr Leben, das Dingi, mit dem sie nächtlich zu einem angeschleppten Schiffswrack rudern, eine lädierte Jolle, die sie gemeinsam bergen und von ihren Ersparnissen reparieren lassen, oder das Segelboot, mit dem sie auf große Fahrt gehen wollen. Ein charakteristisches Utensil ist das Nachtglas auf dem Fensterbrett, zu dem Hans und Arne häufig greifen, um Werftgelände, Hafen und die nächtliche Silhouette der Stadt zu beobachten. Ein sonntäglicher Familienausflug auf der Elbe, eine Preisverleihung, eine Turnstunde, das Bleigießen zu Silvester oder der Stapellauf des reparierten gemeinsamen Bootes sind wichtige Stationen in Arnes Geschichte, die von den Pflegeeltern in hilflos-ahnungsvoller Sorge, von Hans in souveräner, zuverlässiger Freundschaft begleitet wird.

Trotz der typisierenden Darstellung der Jugendlichen habe ich das letzte Kapitel betroffen und mit Bewunderung gelesen. In welch leisen Tönen, wie verhalten hier der Zusammenbruch eines Menschen geschildert wird, das bleibt unvergeßlich. Lenz erzählt, wie einem Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Sein Ton schwingt zwischen hilflosem Schmerz und der Stille einer beinahe naturgesetzlichen Tat. Wieder sind es die Elbe und ein leeres Boot, die zum letzten Symbol werden. „Du glaubst nicht, Hans, welche Gründe mitunter ausreichen; du könntest verzweifeln”, kommentiert der Vater den Tod des Jungen. Und sein Sohn Lars begreift: „Schlimm für uns alle, oder?”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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