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Thomas Freitag

100 Jahre Schreckensgeschichte des deutschen Kinderliedes

Ganz besonders mußt du sein,
willst du mit uns fahren,
wer normal ist, kommt nicht rein,
nicht in hundert Jahren.

(Jutta Richter/Konstantin Wecker: Es lebte ein Kind auf den Bäumen)

Auf dem Kindermusikmarkt sind schöne, pfiffige und für Kinder sehr annehmbare Sachen zu haben: Der Killekitzelkäfer (FERRI), Geraldinos „Zahnspangenlili & Brillenschlangenwerner”, „Der kleine Räuber Fifikuß” von Eva-Ria Gerstenberger, Ulrich Maskes Abend-, Schlaf- und Wiegenlieder, die Spiel- und Bewegungslieder „Ping Pong Pinguin” von Fredrik Vahle, Stephen Janetzkos „Es tanzt der Bär” oder sein aufklärendes Kinderernährungslied „Roh macht froh”, die Ritter-Rost-Hexen-Gespenster-Lieder Felix Janosas, „Strahlemann & Stupsnase” von Daniel Kallauch, Kinderbrandschutz-Lieder von Kiddy's Corner Band, „Riesengroße Zwerge” und „Klitzekleine Riesen” vom Trio Kunterbunt, besinnlich-meditative Lieder von Dorothée Kreusch-Jacob, immer wieder die gängigen Sachen Rolf Zuckowskis wie auch seine verdienstvollen Interpreten-Sampler, Detlev Jöckers Serienproduktionen mit besonderem Lustigkeitsanspruch, „Monsterquatsch und Wackelzähne” von Lila Lindwurm, die in eigener Biosphäre gedeihenden Lieder von Margarete, Wolfgang, Nicolas und David Jehn von der Worpsweder Musikwerkstatt, dazu inzwischen zu „Klassikern” gewordene Einspielungen von Klaus W. Hoffmann, Fredrik Vahle, Rolf Zuckowski, Wolf Biermann oder Volker Ludwig & Birger Heymann vom Berliner Grips Theater, Lieder von „The Englishman in Berlin”: Robert Metcalf und Konstantin Weckers Liedermärchen „Es lebte ein Kind auf den Bäumen”.

Alle Interessen scheinen bedient, jeder kann kaufen und an die Kinder weitergeben, auf dem Kindermusikmarkt werden in jedem Jahr Tonträger in der Größenordnung von 176 Mio. DM umgesetzt - Friede, Freude, Kinderlied.

Eine Schreckensgeschichte des Kinderliedes? Die Thematik setzt nicht auf publizistische Attitüde oder Schwarzmalerei. Aber das zu Ende gegangene 20. Jahrhundert kennt Kind-Musik-Konstellationen, die sich auf perfide ideologische und politische Kontexte gründen und die - mit Verlaub - künftigen Generationen erspart bleiben sollen. Imperialismus, Kaiserzeit, Weltwirtschaftkrise, NS-Zeit, Stalinismus und Kommunismus, Kalter Krieg - vor diesen Hintergründen wurden Kinder musikalisch sozialisiert, oft indoktriniert. So nebensächlich ist dieser Blick nicht, und die Gebrauchsgeschichte des deutschen Liedes, des Volksliedes und in Sonderheit des Kinderliedes ist so facettenreich, daß es um mehr geht als nur Lustigkeits- und Gefälligkeitsansprüche. Kinderlieder gehören nicht auf die Schlachtfelder der Ideologen, und sie sind auch kein Gegenstand der Philosophie. Gleichfalls sind die Kinderlieder nicht dazu da, von Erwachsenen als Mittel bloßen Naivitäts- und Harmonisierungsdenkens gebraucht zu werden.

Wird die heutige entwickelte Landschaft des Kinderliedes betrachtet, so ist schwer vorstellbar, daß nicht nur unkindgemäße, kinduntypische, sondern ganz und gar furchterregende, „schröckliche” Lieder für Kinder über ein gesamtes Jahrhundert hin anzutreffen sind. Sicher sind dies Extremfälle der Liedgeschichte, aber der Blick darauf kann ganz instruktiv sein, und am Beginn eines neuen Jahrhunderts darf einmal Rückschau genommen werden, damit deutlicher heutige Leistungen, wie sie uns beispielsweise in den eingangs aufgezählten Produktionen begegnen, gewürdigt werden können. Und erst kürzlich antwortete der Soziologe, politische Regierungsberater und Philosoph Oskar Negt in einem Interview auf die Frage, wie er das zu Ende gegangene Saeculum charakterisiere, mit dem Satz: „Ich würde es in Anknüpfung an das 1900 erschienene Buch der schwedischen Pädagogin Ellen Key das Jahrhundert des Kindes nennen.” (ders., 31.12.1999)

Auszugehen ist vom methodologischen Ansatz der Musikethnologie, wonach deutlich zwischen Liedforschung und Singeforschung zu unterscheiden ist. Mit anderen Worten: Nicht alles, was für Kinder geschrieben wurde, hat auch - glücklichersweise - so die Kinder erreicht. Daß sich aber in einem Zeitraum eines Jahrhunderts die Fälle des Liedmißbrauchs so häufen, ist auffällig und bemerkenswert. Was alles aus „nützlichen”, „patriotischen”, „propädeutischen”, „soldatischen”, „nationalvölkischen”, „realsozialistischen” Erwägungen heraus für den kindlichen Gebrauch empfohlen wurde, spottet beinahe jeder Beschreibung. Mehr noch: Diktatoren verschiedenster Machtapparate - zu nennen sind Lenin, Hitler, Stalin, Mao Tse-tung, Ulbricht, Honecker, Hussein u.a. - haben sich im Kreise begeistert singender Kinder abbilden lassen, um auf perfide Weise nicht nur die Einheit von Kind- und Erwachsenenwelt, hier in ihrer eigenen Person, zu demonstrieren, sondern auch Vorstellungen von gesellschaftlicher Harmonie und Friedensfähigkeit zu artikulieren.

Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges schien es Liederbuchherausgebern angebracht, historische Kinderkriegs- und Vaterlandslieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung (erschienen bei Breitkopf & Härtel, Berlin/Leipzig) herauszubringen. Dort wurden dann zum Zweck „patriotischer” Erziehung selbst kleinster Kinder Gesänge wie zum Beispiel das „Lied eines deutschen Knaben” (Text: F. L. Graf zu Stollberg, Musik: A. W. Erk) aus dem 18. Jahrhundert hervorgeholt:  

Lied eines deutschen Knaben (Ausschnitt)  

Mein Arm wird stark und groß mein Mut,
gib, Vater, mir ein Schwert;
Verachte nicht mein junges Blut,
ich bin der Väter wert!  

Schon früh in meiner Kindheit
War mein täglich Spiel der Krieg.
Im Bette träumt` ich nur Gefahr
und Wunden nur und Sieg.
 

Auch mit den Mitteln der Kontrafaktur sind bekannte Kinderlieder in die kriegspolitischen Kontexte der Kaiserzeit gestellt worden, beispielsweise:   Morgen kommt der Weihnachtsmann (Ausschnitt)

Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben.
Trommel, Pfeifen und Gewehr,
Fahn'n und Säbel und noch mehr,  
ja ein ganzes Kriegsheer möchte ich haben.
 

Die schulische Kriegserziehung und ein auf den Krieg zielendes Singen erreichte einen vorläufigen Höhepunkt zur Zeit des Ersten Weltkrieges, wenngleich sich kriegerisches Vokabular im Kinderlied auch beispielsweise schon in den Liedschöpfungen Friedrich Gülls (1812-1879) zeigt. Ein Liederbuch aus dem Jahr 1914 sah für Schüler der 1. Klasse folgendes Lied, als Kontrafaktur auf die Melodie „Hänschenklein”, vor.  

Kühn voran, zieht die Fahn!  

Folget alle Mann für Mann!
Tapfer mit! Tritt für Tritt!
Haltet strammen Schritt!

(zit. nach Lemmermann 1984,Bd.2, Dok. 15)  

Zur Ehrenrettung des Kinderliedes in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts muß vermerkt werden, daß kritische Schriftsteller und Künstler wie Joachim Ringelnatz, Erich Weinert, Paula und Richard Dehmel, Bertolt Brecht und Hanns Eisler oder Wilhelm Lamszus, Heinrich Scharrelmann und Leopold Jakoby zu angemessenem Kindverständnis und hoher Wahrhaftigkeit in ihren kindbezogenen Werken fähig waren. Sie stellten sich damit herrschender Kultur entgegen, hatten aber für ihre Gedichte und Lieder meist nur unzureichende Möglichkeiten der Verbreitung.

Die Ziele, Menschen zu Kriegsmaschinen zu erziehen und Schulen als Dressuranstalten für den Krieg einzurichten, waren durch den verlorenen Weltkrieg und das Ende der Kaiserzeit in Frage gestellt. Was aber unter der jungen Generation an seelischem Schaden hinterlassen wurde, ist eine ganz andere Sache. Der Drang der jungen Generation nach kollektiver Identifikation und Artikulation wurde nach dem verlorenen Krieg 1918 vielfältig aufgefangen. „Schar”, „Gilde”, „Kreis”, „Gemeinde”, „Verein” wurden Orte kollektiven Denkens und Handelns. Die musikalische Jugendbewegung bot unterschiedliche größere, kleinere und kleinste Plattformen geistig-kultureller Indentifikation. Schon in den zwanziger Jahren vermochten konservative, reformerische, chauvinistische und religiöse Kräfte der Wandervogelbewegung gefühlshaft bestimmte Energien in vermeintlich unpolitischem Singen zu steuern, um von den sich vergrößernden sozialen Widersprüchen abzulenken. Der Geist, den man in der Beschwörung der „Morgenfrische”, der „hellen Flöte”, dem „Komm, komm, lockt der Schritt, komm, Kamerad, wir ziehen mit” oder den durch die Nacht „rauschenden Wildgänsen” antrifft, will den Eindruck von Friedlichkeit und heiterer Friedfertigkeit erwecken. Realistisch betrachtet stehen dahinter Kompensationsgedanken, Gedanken der Ausrichtung, letztlich auch ordnendes, kollektives Wollen, ganz abgesehen davon, daß die aktuelle Lebensrealität der meisten Menschen jener Zeit in krassem Widerspruch dazu stand. Was in der NS-Zeit als Volksgemeinschaft, heile Volksseele, Volksgesundheit auf dem Wege therapeutisch betriebenen „Kraft durch Freude”-Erlebens propagiert wurde, war im Gedicht und Lied längst vorweggenommen.  

Von allen blauen Hügeln reitet der Tag ins Land,
er reitet mit wehenden Zügeln, er reitet mit weiter Hand.  

Er rücket stolz zu Felde und schlägt die Nacht entzwei,
er nimmt sie ganz gefangen und macht die Erde frei.  

Er jagt die Nebelschwaden und macht den Himmel weit.
Die Hügel gehören dem Morgen, die Hügel zu aller Zeit.  

Nun stößt seine blitzende Klinge der Morgen ins Firmament,
entfaltet sein blaues Banner, darinnen die Sonne brennt.

(Text und Melodie: Hans Baumann; in Noll 1994)  

Das vom Schott-Verlag in den dreißiger Jahren herausgegebene Werbeblatt „Was die deutschen Kinder singen” (Edition Schott Nr. 600) enthält im Vorwort (für die 1. bis 49. Auflage) von Heinrich Martens die programmatische Ausrichtung: „Möge dieser Lieder-Blumenstrauß nach wie vor ein lebendiges Wahrzeichen der unzerstörbaren Seele unserer deutschen Heimat blühen und Freude bringen.” (ebd.)

Der Inhalt des Liederbuches ist unter folgende Überschriften gruppiert und fand unter der Mehrheit des damaligen Volkes Zustimmung:  

-Was die deutschen Kinder singen an liebem Sinn und Unsinn
-Was die deutschen Kinder singen von den Bäumen, Blumen und Tieren unserer Heimat
-Was die deutschen Kinder singen, wenn es Abend ist oder wenn Weihnachten kommt
-Was die deutschen Kinder singen an Volks- und Vaterlandsliedern
-Was die deutschen Kinder singen, wenn sie zusammen spielen (ebd.)  

Das entsprechende Liedgut gehört insgesamt noch zu einem gewissermaßen zeitlos gültigen Liedfundus und wurde trotz der national-völkischen Ideologisierung als solches verstanden und gebraucht. Blüten des Führerkultes gab es allerdings auch, und so ist unter den damals „neuen” Kinderliedern auch ein aus einem Kindergarten Pfullingen (Kreis Reutlingen, Süddeutschland) überliefertes Beispiel bekannt, das auf seine Weise die Schreckensgeschichte des deutschen Kinderliedes illustriert:  

Du lieber Führer du,
wir Buben und wir Mädchen
aus jedem Dorf und Städtchen,
wir jubeln laut dir zu.
  Du lieber Führer du,
wie gut bist du uns Kleinen,
drum sind wir auch die Deinen
und bleiben's immerzu.

(vgl. Baader, Bd.1, 72)  

Ähnlichen Ungeist verbreitete ein „Führerkinderlied”, das auf die Melodie „Heil dir im Siegerkranz” zu singen war:  

Den Führer segne Gott,
den er zum Heil uns gab,
ihn segne Gott.
Er schützt das deutsche Land
mit seiner starken Hand.
Den Führer segne Gott,
ihn segne Gott.

(ebd.)  

Bertolt Brecht hatte zeitig erkannt, daß das Kinderlied auch als „Gegenlied” zu herrschender Un-Kultur fungieren konnte. Sein im dänischen Exil geschaffenes „Alfabet” für Kinder (1934) belegt dies anschaulich. Unter dem Buchstaben A heißt es:  

Adolf Hitler, dem sein Bart
Ist von ganz besondrer Art.
Kinder, da ist etwas faul:
Ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.

(Brecht 1934; 1966, 58)  

Das unter D stehende Gedicht insistiert auf die Emanzipation des Kinderverses von seinen bürgerlich-veralteten Schablonen. Es bringt Kindern ganz elementare Einsichten und lautet:  

Die Dichter und die Denker
Holt in Deutschland der Henker.
Scheinen Mond und Sterne nicht
Ist die Kerze das einzige Licht.

(ebd.)  

Völlig abwegig ist die Vorstellung, die Schreckensgeschichte des deutschen Kinderliedes sei nach 1945 beendet. Positionen, wie sie beispielsweise Leo Kestenberg (1882-1962) als bedeutender Musikerzieher seiner Zeit schon 1925 entwickelt und sich gegen die Beschränkung des Musikunterrichts auf das Singen ausgesprochen hatte, konnten lange ignoriert werden. Kestenberg sah die Gefahr von „musikalischer Unterernährung oder Ausgleich durch minderwertige Musik” (zit. nach Jenne 1977, 157). Dieser Erkenntnis konnte sich beispielsweise der Lehrplan der baden-württembergischen Volksschule 1958 noch völlig verschließen. Es heißt dort: „Im Mittelpunkt des Musikunterrichts steht das Singen von Kinder- und Volksliedern ... in allen Schuljahren gehört das unmittelbare Aufnehmen durch das Ohr - nach der Mütter Weise - zu den natürlichen Formen des Singens ... Das Spielen auf kindertümlichen Instrumenten soll vom Singen ausgehen.”

Äußerst bedenklich sind aber Liedinhalte der deutschen Wirtschaftswunderzeit. Im selben Jahr 1958 erschienen in der Sammlung Ri-Ra-Rutsch. Kinderreime und Kinderlieder aus aller Welt (Ullstein Buch) der Text (Auszug):  

Zehn kleine Negerlein, die bauten eine Scheun,
das eine fiel vom Dach herab, da waren's nur noch neun.
Neun kleine Negerlein, die gingen auf die Jagd,
eins verirrte sich im Wald, da waren's nur noch acht.
Acht kleine Negerlein, die wußten nichts von Dieben,
der Fuchs stahl eines davon weg, da waren's nur noch sieben.
Sechs kleine Negerlein, die liefen ohne Strümpf,
einer schnitt sich in den Zeh, da waren's nur noch fünf.
Fünf kleine Negerlein, die spielten einst Klavier,
dem einen platzt' das Trommelfell, da waren's nur noch vier. Vier kleine Negerlein, die fuhr'n in die Türkei,
einen traf der Sonnenstich, da waren's nur noch drei
(Auszug).  

Texte dieser Art, aber auch das mystisch-kultische Singen der alten Hans-Baumann-Lieder bestätigen das Urteil des Liedforschers Ernst Klusen, der die Situation des Singens von der Nachkriegszeit bis zum Anfang der siebziger Jahre als eine Zeit der „Regression und Reaktion” umreißt (ders. 1985, 325 ff.).

Als das Sängerpaar Christiane Knauf und Fredrik Vahle 1973 seine erste, inzwischen legendär gewordene Platte „Die Rübe” veröffentlichte, muß das Motiv dominant gewesen sein, einen wirkungsvollen Beitrag zur Erneuerung des obsolet gewordenen, alten Kinderliedes leisten zu wollen. Die Intention bestand darin, an „Interessen an(zu)knüpfen, die in einer realen Umwelt entstanden sind” (Cover-Text). Man habe die Beobachtung gemacht, daß „bereits Drittklässler nur noch Spott für die traditionellen Kinderlieder übrighaben” (ebd.).

Von 1960 an bis in die 80er Jahre hinein war der Sexualwissenschaftler Ernest Borneman (1915-1995) unterwegs auf den Spuren des unverstellt sexuellen, alternativen Kinderliedes und Kinderreimes. Die ersten drei Bände seiner Ausgabe Studien zur Befreiung des Kindes (1973-1976) enthalten ca. 5 000 Kinder- und Jugendreime, gesammelt in 36 deutschen Städten. Borneman wollte den Nachweis erbringen, daß Kinder eine Neigung zu phallischen, genitalen bis hin zu skatologischen und fäkalsprachlichen Äußerungen und Wörten besitzen.

So verdienstvoll das großdimensionale Ein-Mann-Projekt Bornemans war, so verklärend war es auch in vielen Zügen, verifizierbar ist seine Sammlung nicht. Borneman strebte eine Blickrichtung für seine Untersuchungen an, die er ankündigte als „eine Forschungsreise in eine alternative Welt, die uns in mancher Hinsicht seltsamer anmutet als die fernen Planetensysteme der Science-fiction” (1973, 14). Seine Studien haben dem Endlos-Traum von der Freiheit des Kinderliedes neue Anregungen vermittelt, manche überlieferte Zeugnisse lesen sich allerdings auch wie Belege für eine Anti-Geschichte des Liedgenres.  

Die Leber ist von einem Hecht
Und nicht von einer Gans.
Wenn ich genug gevögelt hab,
Dann leckt sie mir den Schwanz.

(Wolfsburg 1965)  

Die kleine Maid, ganz pudelnackt,
Das Büblein an der Nudel packt.

(zit. nach: Borneman 1973, 1988)  

Rolf Zuckowski hatte in den 70er Jahren den Bruch mit dem alten Kinderlied-Erbe scharf vollzogen. Er verband in diesen Jahren unmittelbar nach der Beatles-Ära Spielweisen und Stilistiken der Rock-, Pop- und später Schlagermusik konsequent und in verdienstvoller Weise mit neuen Aussagen in seinen für Kinder bestimmten Liedern. Dieses Herangehen brachte ihm die schnelle Gefolgschaft einer interessierten Hörerschaft ein, wenngleich Adressierungen seines Singens unscharf wurden und die zielgerichtete Ausrichtung des Kinderliedes auf die marktorientierte Größe „Hit” bzw. „Kinder-Hit” neue Klischeebildungen hervorbrachte. Inzwischen warben bereits die Drogeriemärkte der Verkaufskette SCHLECKER (ca. 3 000 Filialen in Europa) mit einem Produkt des erfolgreichen Singer/Songwriters. Zuckowski ist der erste „Kinderliedermacher”, der auch in das Schlagerlexikon aufgenommen wurde.

Andere Entwicklungen gab es im ehemaligen „Arbeiter-und-Bauern-Staat” DDR. Zwar existierte kein nationalistisches Restliedgut - wenige, „kaschierte” Beispiele, die als neue Volkslieder firmierten, ausgenommen -, dafür wurde auf andere geeignete Weise die Kitsch- und Schreckensgeschichte des Kinderliedes fortgeschrieben. Auffällig war die Tendenz, daß in den Jahren des Fortbestehens der DDR besonders im Liedgut der Schulen immer weniger Toleranz für die Anerkennung des einen oder anderen Liedes aufgebracht werden konnte. In früheren Jahren konnte vielleicht noch akzeptiert werden, daß das „neue” Kinderlied aus praktisch keinem gesellschaftlichen Bereich herausgehalten wurde. Es gibt Lieder wie „Der Volkspolizist”, „Unsere Patenbrigade”, „Hochhausreigen”, „Heute kaufen wir im Konsum ein”, „Gemeinsam mit guten Genossen”, „Hör ich Soldaten singen”, „Pioniersignal überall”, zum Ende der DDR hingegen begegnen uns Lieder, die den Gedanken des militärischen Schutzes des Staates stärker akzentuieren. Insgesamt zeigt das Kinderlied der DDR viele Facetten. Daß zu Staatsfeierlichkeiten auch Lieder in Auftrag gegeben wurden oder systemkonforme Lyriker und Songschreiber in den Vordergrund traten, versteht sich von selbst und braucht hier nicht länger nachgewiesen werden. Eine große Verbreitung hatten die „offiziellen” Liederbücher, beispielsweise Liederbuch der Jungpioniere, Liederbuch der Thälmannpioniere und das Liederbuch der deutschen Jugend (alle Friedrich Hoffmeister Musikverlag Leipzig). Diese Bücher wurden in den seltensten Fällen von Privatpersonen gekauft. Obwohl sie keine Schulbücher waren, kamen sie als Arbeitsmaterialien der Pionierleiter in Schulen und an städtischen Pionierhäusern, in Kreis- und Bezirksleitungen der Kinder- und Jugendorganisation zum Einsatz und hatten so Millionenauflagen. Regelmäßig wurden die Pionierliederbücher von den Beratern um Siegfried Bimberg neu nach politischen Erfordernissen zusammengestellt, ergänzt, Lieder ausgesondert. Programmatische Ansprüche des Musik- und Kunstschaffens der proletarischen Bewegung wurden losgelöst von ursprünglichen Konnexbedingungen und als langlebige, quasi immer gültige Parolen in Umlauf gegeben.

1977, nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermanns, erschien in sechster (veränderter) Auflage das Liederbuch „Seid bereit!” der Pionierorganisation. Die Herausgeber tilgen das künstlerisch wertvolle und ansprechende Lied „Anmut sparet nicht noch Mühe” von Brecht und Eisler und setzen als Titellied des Liederbuches eines der schwächsten Eisler-Lieder aus dem Jahr 1958: „Trommel, geh uns stets voran” nach dem Text von Max Zimmering. Dieses Eislersche Unglückslied wurde lange überhaupt nicht gedruckt, der Komponist hat außer diesem Lied nie wieder einen anderen Text des Gesinnungslyrikers Zimmering vertont. Daß dieses trivial erscheinende Lied gerade in jener Zeit dienstbar gemacht wurde, ist zweifellos politisch motiviert, und es ist zugleich der Versuch, das hohe Ansehen des Komponisten Hanns Eisler dienstbar zu machen.  

Trommel, geh uns stets voran, du, der man vertrauen kann.
Jeder Thälmannpionier weiß den treuen Freund in dir.  

Trommel, du bist voller Glut, schenkst uns Freude, Kraft und Mut.
Ob beim Lernen oder Spiel, sei Begleiter uns zum Ziel!  

Trommel, sei uns Kamerad auf dem Weg zur guten Tat
Und ertöne immerzu, gib den Schläfern keine Ruh!  

Trommel, rufe froh und hell junge Kämpfer zum Appell!
Fehle nie an unsrer Seit in dem großen Friedensstreit.  

Refrain  

Singe uns dein Trommellied, bis der Feind des Lebens flieht!
Laß uns mit dir vorwärts gehn, wo die roten Fahnen, die roten
Fahnen, die roten Fahnen wehn.
 

Der Bezug zum übermächtigen, alles beherrschenden Symbol der „Trommel” schafft die gefährliche Nähe zu Liedern nationalsozialistischer Herkunft. Im übrigen konnte der Duktus der Wortwahl - „Feind”, „Fahne”, „Kraft”, „Mut”, „Kamerad”, „Kämpfer” - Kindgemäßheit niemals beanspruchen. Es gab andere, nicht so verbissene Töne aus dem Munde von Liedermachern aus Ost-Berlin. Im selben Jahr 1977 entstand die folgende Kinderliedpersiflage:  

Kommunismus in Bernau  

Refrain  

Hopsa, hopsa, rüber und nüber.
Jetzt gehen wir zum Kommunismus über.
Hopsasa!
Jetzt endlich haben wir's geschafft, der Kommunismus tritt in Kraft.
Bernau, so hat der Rat beschlossen, wird kommunistisch heut, Genossen.
Wer hätt vor Jahren schon gedacht, daß nicht Berlin das Rennen macht.  

Denn in Bernau gibt's Volvotaxen und Selbstbedienungszahnarztpraxen.
Die Milch wie früher kommt ins Haus, die Post teilt Telefone aus.
Der Bauernmarkt wird neu entdeckt, Intershop wird FDJ-Objekt.
Kurzum, es herrscht das Weltniveau, der Bahnhof kriegt ein Wasserklo.

(Auszug; in: 100 Lieder Oktoberklub )  

Kindliches Singen im Mißbrauch politischer Macht ist bis in die jüngste Vergangenheit hinein nachweisbar, und aus heutiger Sicht mutet es erschreckend an, daß noch 1988 im Osten Deutschlands das für Vorschulkinder bestimmte Liederbuch Singen macht Spaß erschien und Lieder wie „Soldaten unserer Volksarmee”, „Unsere Grenzsoldaten”, „Zum 1. März, Tag der NVA”, „Mein Bruder ist Soldat”, „Hör ich die Soldaten singen”, „Weiße Striche am blauen Himmel”, „Des Peters großer Bruder”, „Lied von der Volksarmee” empfahl. Es finden sich unter den Liedzeilen u.a.:  

Hör ich die Soldaten singen, laß ich all mein Spielzeug stehn,
und renne auf die Straße, die Soldaten muß ich sehn...
 

In einem anderen Lied heißt es:  

Mein Bruder ist dabei, auch er schützt unsern Staat
Und wenn ich später größer bin, dann werd auch ich Soldat
(ebd. 20 ff.)  

Nicht nur, daß hier sperrige und kinduntypische Themen vorgeführt wurden, mehr noch irritierte und beängstigte eine unbedingte Identifikationsabsicht zwischen kleinem Kind und Soldatenvorbild, auf die frühzeitig hingewirkt wurde. Intention, ästhetisch-künstlerischer Anspruch, Kindverständnis, Verkaufsabsicht und Verkaufsgebahren - all diese Momente sind bedeutsam, wenn der Blick auf den nicht unwichtigen, wertebildenden Sektor des Kinderliedes gelenkt wird. Disparität muß diskutiert werden, denn es ist so wahr wie lapidar: Kinder sind die Zukunft einer jeden Gesellschaft, und womit die Kinder zu tun bekommen, ist nicht nebensächlich. Alle eingangs genannten Liedermacher und Interpreten lehnen die vollständige Kommerzialisierung des Kinderliedes ab. Es gibt feine Nuancen:

-Beispielsweise sprechen Kinder, wenn sie andere Kinder meinen, nie von „Kids”, Erwachsene dagegen häufiger.

-Beipielsweise fangen Kinder allein nicht mit dem Karaoke an. Selbst wenn diese sängerische Aktion auch produktives Tun stimuliert -, es sind die Erwachsenen, die dies initiieren.

-Beispielsweise hört naturgemäß das zwei- oder dreijährige Kind die Mutter am Bett beim Einschlafen lieber, als ausschließlich die im Drogeriemarkt erstandene CD mit Zweidutzend „Schlafliedern aus aller Welt” (Verkaufspreis 2. 95 DM).

-Beispielsweise sollte für die Sängerin Paola mit ihrer „Kinderlieder-Hitparade” erkennbar sein, daß auch am traditionellen Kinderlied mehr zu entdecken ist, als nur die Monotonie von Endlosschleifen von einem Lied zum anderen. Außerdem ist es fragwürdig, als Dramaturgie der CD das Lied „Zehn kleine Negerlein” einzusetzen und über Lieder diese Hitparade-Eigenwerbung für die einstige TV-Show „Verstehen Sie Spaß?” zu betreiben.

Es liegt in der Natur der Sache, daß sich mit dem Kinderlied immer auch pädagogisch-erzieherische und propädeutische Intentionen verbinden, weil Musikvermittlung von einer älteren an eine jüngere Generation zu notwendig ist aller Zeit. Damit ist allerdings nicht gemeint, daß das Interessenfeld Kind und Musik auf das Schlachtfeld von Ideologen geführt wird, wie eine kurze Schreckensgeschichte des deutschsprachigen Kinderliedes belegt. Im Gegenteil: Das alte Jahrhundert zeigt als Gegenstück zu hier aufgeführten Belegen, daß gerade mittels der musikalischen Kleinform Lied alternative und sogar subversive Energien zu vermitteln sind. Die „Lust des Kindes, mit Dreck zu werfen” (Peter Rühmkorf) gehört so zur Geschichte des Kinderverses und Kinderliedes dazu.  

Literatur:

Baader, Ulrich. Kinderspiele und Spiellieder (Universität Tübingen), 2 Bde. 1979

Borneman, Ernest. Studien zur Befreiung des Kindes; 3 Bde., Olten und Freiburg (Walter) 1973-1976

Brecht, Bertolt. 1966 Ein Kinderbuch (Der Kinderbuchverlag), Berlin 1978

Freitag, Thomas. „... weder vulgär noch verspielt oder gar tölpelhaft modernistisch” - Bertolt Brecht und Hanns Eisler in ihrem künstlerischen Schaffen für Kinder, in: Berliner LeseZeichen Heft 2/1998

100 Lieder Oktoberklub. Herausgegeben vom Büro Festival des politischen Liedes (Verlag Junge Welt) Berlin 1985

Jenne, Michael. 1977 Musik, Sprache, Ideologie (Klett-Verlag), Stuttgart 1977

Kinderkriegs- und Vaterlandslieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung” (erschienen bei Breitkopf & Härtel, Berlin/Leipzig) 1915

Klusen, Ernst. Lied im Unterricht; in: Handbuch der Schulmusik (Hrsg.v. S. Helms, H. Hopf und E. Valentin), (Bosse-Verlag), Regensburg 1985

Lemmermann, Heinz. Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890-1918, Lilienthal/Bremen, 1984

Negt, Oskar. Wir müssen noch einmal von vorn beginnen (Interview in: Neues Deutschland, Tageszeitung, 31.12.1999, S. 14 f.), Berlin

Noll, Günther. Kinderlied und Kinderliedsingen im Mißbrauch politischer Macht; in: Musikalische Volkskultur und die politische Macht (Tagungsbericht Weimar 1992, Hrsg. v. G. Noll), (Die Blaue Eule), Essen 1994

Ri-Ra-Rutsch Kinderreime und Kinderlieder aus aller Welt (Ullstein Buch), Frankfurt/M. 1958

Rühmkorf, Peter. Über das Volksvermögen. Erkundungen in den literarischen Untergrund (rororo), Hamburg 1967

Singen macht Spaß - Singen macht Spaß. Liederbuch für Vorschulkinder (v. A. Hartung), (Volk und Wissen Verlag), Berlin 1988

Vahle, Fredrik. 1973 Schallplatte „Die Rübe”, (pläne-Verlag), Dortmund 1973

Wecker, Konstantin. Es lebte ein Kind auf den Bäumen (CD, Buch; mit Jutta Richter) BMG Ariola, Hanser Verlag 1999

Zuckowski, Rolf. Meine Lieder - Meine Freunde. Texte, Begegnungen, Erinnerungen 1974-1994 (Musik für Dich), Hamburg 1994
 


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
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