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Astrid Melzer
»...man nannte ihn einen Mann aus dem Monde«

Der Mathematiker Johann Heinrich Lambert
(1728–1777)

Die Urteile seiner Zeitgenossen über ihn waren widersprüchlich, und dies sowohl was seine wissenschaftliche Laufbahn als auch seine persönliche Erscheinung betraf. Lambert, so ein Biograph, hatte kein angenehmes Äußeres. Auge und Ohr hatten Mühe, sich an ihn zu gewöhnen. Er ging seltsam gekleidet, war schüchtern und bewegte sich ungeschickt. Während die einen ihn für einen Universalgelehrten hielten, erkannten die anderen zwar an, daß er auf vielen Gebieten der Wissenschaft tätig sei, meinten aber, wirklich bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen könne man von ihm nicht erwarten. Nachschlagewerke führen ihn als Astronom, Mathematiker, Philosoph und Physiker.
     Geboren am 26. August 1728 in Mulhouse (Elsaß), arbeitete Lambert zunächst als Sekretär und Hauslehrer in Basel und Chur, bis er nach vielen Reisen und Kurzaufenthalten, u. a. in Göttingen, Utrecht, Paris,

Johann Heinrich Lambert

 
Mailand, Augsburg, Leipzig und München, mit der ursprünglichen Absicht, nach Petersburg zu gehen, im Jahre 1764 in Berlin anlangte. Hier wurde er trotz des schlechten Eindrucks, den er bei dem preußischen König Friedrich II. (1712–1786) hinterließ,

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zum Oberbaurat und als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in die Abteilung der physikalischen Klasse berufen. Dies verdankte Lambert u. a. den Bemühungen seiner Freunde Leonhard Euler (1707–1783), Johann Georg Sulzer (1720–1779) und Johann Bernoulli (1667– 1748). Der Mathematiker Euler, schon seit 1741 Akademiemitglied, und der Astronom Bernoulli, beide gebürtige Baseler, die Lambert durch seine Tätigkeit als Hauslehrer in dieser Stadt kennenlernte, setzten sich persönlich für Lambert ein, um ihn in Berlin zu halten, was sicherlich einiger Anstrengungen bedurfte, denn nicht jeder war von Lamberts Person überzeugt.
     Gerade im damaligen Berlin fiel Lambert durch seine Figur und sein Benehmen in Gesellschaften auf. »Man nannte ihn einen Mann aus dem Monde.« Einige hielten ihn für verrückt. Man erzählte sich, daß Lambert einmal eine wichtige Frage über die Reflexion des Lichtes in einer Abhandlung klären wollte. Der Baseler Mathematiker und Bibliothekar Daniel Huber beschreibt, wie Lambert die dafür anscheinend nötige praktische Klärung in aller Öffentlichkeit vornahm: »Er bedurfte dazu eines großen Spiegels und gieng deswegen in das vornehmste Caffeehaus zu Berlin. Daselbst waren mehrere Offiziere und einige Bürger, die spielten. Er grüßte sie nach seiner Gewohnheit, ohne sie anzuschauen, indem er seinen Kopf auf die rechte Seite kehrte und
stellte sich sogleich vor einen großen Spiegel des Saales. Da zog er seinen Degen, gieng vorwärts und wieder rückwärts, machte allerhand Bewegungen, als ob er föchte, und dachte dann über das, was er sah und machte, eine Zeitlang nach. Dies trieb er während einer halben Stunde, ohne zu bemerken, daß alle Anwesenden, die nicht wußten, was die Sache zu bedeuten habe und ihn für einen Narren hielten, ihn umgaben und bereit waren, wo es nöthig seyn sollte, ihn zu ergreifen und zu entwaffnen. Nachdem er alle seine Beobachtungen und Versuche gemacht hatte, steckte er seinen Degen ruhig in die Scheide, warf einen gleichgültigen Blick auf die welche ihn umgaben, grüßte sie wieder, wie bei der Ankunft, und gieng nach Hause, seine Abhandlung zu schreiben.«
     Andere wußten zu berichten, daß Lambert einmal in der großen Oper zu Berlin in tiefes Nachdenken verloren war. Als das Schauspiel beendet und das Publikum bereits gegangen war, blieb er allein sitzen. Erst als der große Leuchter herabgelassen wurde, um ausgelöscht zu werden, erwachte er aus seinen Betrachtungen und tappte im Finstern aus dem Saal. Man erfuhr von ihm, daß er den ganzen Abend damit beschäftigt gewesen war, die Strahlenbrechungen dieses Leuchters zu berechnen.
     Auf wissenschaftlichem Gebiet wird Lambert die Entwicklung der Theorie des Sprachrohres nachgesagt. Ebenso begründete
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er mit seinem Werk »Photometria, seu de mensura et gradibus luminis colorum et umbrae« (Augsburg 1760) die Lehre von der Messung der Intensität des Lichts als Wissenschaft. Verdienste in der Philosophie, speziell der Erkenntnistheorie, werden ihm mit seinem »Neues Organon, oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren« (Leipzig 1764) zugeschrieben. Es ist der Versuch, mit Hilfe der Mathematik eine bessere Methode der Philosophie aufstellen zu wollen. Vor allem aber wird von einigen in dieser Abhandlung eine Vorarbeit zur Kantschen Erkenntnistheorie gesehen, da Lambert im Kapitel zur Phänomenologie oder Lehre von dem Schein eine Unterscheidung von Stoff und Form vornahm und die Auffassung vertrat, daß die sinnliche Erkenntnis zunächst nicht das Reale, das Wesen der Dinge betrifft, sondern den Schein als die Wirkung des Realen auf unsere Sinne. Dieses Vorgehen, den Weg der Erkenntnismethode von der Erscheinung des Wesens zur philosophischen Wahrheit vorzudringen, wird nach einem der Optik ähnlichen Muster vorgestellt.
     Mit dem Königsberger Philosophen Kant (1724–1804) unterhielt Lambert einen Briefwechsel, der auch von der Verehrung Kants Lambert gegenüber zeugt. So z. B. schreibt Kant in seinem Brief vom 31. Dezember 1765: »Es hätte mir keine Zuschrift angenehmer und erwünschter seyn können, als diejenige, womit Sie mich beehrt haben, da ich, ohne
etwas mehr als meine aufrichtige Meinung zu entdecken, Sie vor das erste Genie in Deutschland halte, welches fähig ist in derjenigen Art von Untersuchungen, die mich auch vornehmlich beschäftigen, eine wichtige und dauerhafte Verbesserung zu leisten.« Auch aus diesem Grunde wohl vermittelte Kant seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch in Riga an Lambert, um dessen neues Werk »Anlage zur Architectonic, oder Theorie des einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß« (Riga 1771) herauszubringen.
     In der »Anlage zur Architectonic ...« geht Lambert ähnlich wie im »Neuen Organon« nach Methoden der Mathematik und Physik vor. Mit dem Kapitel »Zusatz zum 12. Hauptstücke«, in dem es um die Auffassung von Vollkommenheit geht, greift er in die damalige philosophische Debatte um die Möglichkeit der Beurteilung, was schön sei oder nicht, und ob man das Schöne mit dem Gefühl oder allein mit dem Verstand begründen könne, ein.
     Lamberts Theorie des Schönen zeigt sich von einer logisch-mathematischen Seite, indem er das Schöne in vier Klassen einteilt: Die erste enthält das Schöne, das einfach und homogen, demzufolge auch keiner Zergliederung fähig ist und nur empfunden werden kann, z. B. die prismatischen Farben. Eine zweite Klasse bilden die zusammengesetzten Schönheiten. Hier müsse das Schöne in seiner Verbindung und Anordnung, in
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seinen Verhältnissen gesucht werden, z. B. in der Baukunst. Die dritte Klasse von Schönheit sei mehr relativ, so Lambert. Hier werde, z. B. durch Worte in der Dichtkunst, die Vorstellung von Sachen erweckt. Ebenso relativ sei die vierte Klasse der Schönheit. Sie komme bei der Nachahmung vor, wenn Künstler, z. B. Maler und Bildhauer, die Empfindung erregen wollen, die die Sache selbst machen würde, hätte man sie vor sich. Zu unterscheiden sei hier zwischen der Schönheit der Abbildung und der Schönheit der Sache. Bis auf die erste der vier Klassen, so Lambert, seien alle Schönheiten zergliederbar und aus diesem Grund auch einer Theorie fähig. Somit sind sie aber ein Objekt des Verstandes, der, wird er von einer richtigen Theorie geleitet, der eigentliche Richter des Schönen sei. Diese Theorie liegt für Lambert notwendigerweise im Gebiet der Mathematik. Auf das Urteil des Geschmackes komme es dabei gar nicht an, denn so gesehen sei die Theorie zusammengesetzter Schönheiten durchaus unabhängig und alles »Gezänk« würde somit wegfallen.
     Lamberts Leben in Berlin war durch seine Arbeit an der Akademie und durch das Schreiben umfangreicher Werke ausgefüllt. Diese stete geistige Tätigkeit soll seine schon immer schwache Gesundheit untergraben haben. Er aber ignorierte die Anfänge einer Krankheit; vielmehr regte ihn sein Leiden an zu berechnen, daß er noch 8 000 kleine Abszesse in den Lungen auszuhusten habe,
um noch 15 Jahre zu leben. Am 25. September 1777 starb er schließlich in Berlin.
     Einst befragt, wen er für die besten damals lebenden Mathematiker hielte, antwortete er: »In die erste Reihe gehören Euler und d'Alembert. Der Zweite ist de la Grange; ich sage jezt: denn er wird die beiden Ersten bald einholen. Der Dritte bin ich. Weiter gehe ich nicht; denn ich kenne keinen, den man noch anführen könnte.«

Quellen:
Kants gesammelte Schriften, Akademie Ausgabe, 2. Abteilung, 1. Band, Berlin 1900;
Johann Heinrich Lambert, Anlage zur Architectonic, oder Theorie des einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, Riga 1771;
Johann Heinrich Lambert, Neues Organon, oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren, Leipzig 1764;
Johann Heinrich Lambert nach seinem Leben und Wirken aus Anlaß der zu seinem Andenken begangenen Secularfeier in drei Abhandlungen dargestellt, hrsg. von Daniel Huber, Basel 1829

Bildquelle:
Johann Heinrich Lambert nach seinem Leben und Wirken aus Anlaß der zu seinem Andenken begangenen Secularfeier in drei Abhandlungen dargestellt, a. a. O.

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