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Gerhard Keiderling
Die S-Bahn im Visier des Kalten Krieges

Zum Eisenbahnerstreik oder »UGO-Putsch«

Die Berliner Morgenzeitungen berichteten am 21. Mai 1949, daß die Unabhängige Gewerkschaftsorganisation (UGO) alle in den Westsektoren wohnhaften Eisenbahner ab Mitternacht zu einem Streik aufgerufen hatte. Als in den frühen Morgenstunden dieses Sonnabends wie an jedem Tag der S-Bahn-Verkehr aufgenommen werden sollte, kam es in West-Berlin zu ersten Störungen. Streikende Eisenbahner unterbanden den Zugbetrieb, besetzten Stellwerke und schlossen Bahnhöfe. Sie wurden dabei unterstützt von Trupps, die sich vorwiegend aus UGO- und SPD-Mitgliedern zusammensetzten, sowie von der Westberliner Polizei, für die ihr Präsident Johannes Stumm (SPD) die Alarmstufe I ausgegeben hatte. Nachdem die Streikenden die Fahrmeisterei West in Halensee und das Umformerwerk Charlottenburg besetzt und das betriebseigene Telefonnetz abgeschaltet hatten, ruhte gegen 10 Uhr der S-Bahn-Verkehr weitgehend.
     Die Reichsbahndirektion wies ihr Dienstpersonal an, den S-Bahn-Verkehr in West-Berlin auf alle Fälle aufrechtzuerhalten. Die

Bahnpolizei, ein seit Herbst 1946 existierender Dienstzweig der Volkspolizei zum Schutz der Reichsbahnanlagen in ganz Berlin, wurde durch Einheiten aus der Ostzone verstärkt. Außerdem schickte die SED Agitations- und Hilfstrupps, denen auch Mitglieder des FDGB und der FDJ angehörten. Im Laufe des 21. Mai spitzte sich die Lage schnell zu. Wie hatte es dazu kommen können?
     Die Einführung der DM (West) als alleingültige Währung in den Westsektoren am 20. März 1949 brachte all jenen, die im Westen wohnten und im Osten arbeiteten, Nachteile. Der West-Magistrat richtete eine sogenannte Lohnausgleichskasse ein, die »Ostgängern« bis zu 60 Prozent ihres in DM (Ost) empfangenen Nettolohnes oder Gehaltes im Verhältnis 1 zu 1 in DM (West) umtauschte. Von dieser Regelung blieben die rund 13 000 Westberliner Eisenbahner ausgeschlossen. Die UGO, die nach der Spaltung der Berliner Gewerkschaften im Mai/Juni 1948 von den Westmächten als Tarifpartner anerkannt worden war, verlangte von der Reichsbahndirektion die Zahlung der betreffenden Löhne und Gehälter in DM (West). Diese wies die Forderung mit dem Hinweis zurück, daß sie in der Zeit der »Doppelwährung« zwischen Juni 1948 und März 1949, als die Westberliner mit der »Tapetenmark« die S-Bahn benutzten (vgl. BM 6/98), so gut wie keine Westmark-Einnahmen hatte. Zwischen Anfang April und Mitte Mai 1949 hatte
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die Reichsbahn laut einem bizonalen Prüfungsbericht gerade einmal 137 137 DM (West) eingenommen, was einem Tagesdurchschnitt von rund 3 500 DM (West) entsprach. Dennoch bestand die UGO auf ihrer ultimativen Forderung. Eine Anfang Mai 1949 von der Gewerkschaft der Eisenbahner in der UGO durchgeführte Urabstimmung sprach sich für einen Streik aus.
     Inzwischen änderte sich die politische Großwetterlage. Am 12. Mai 1949 endete nach 322 Tagen die sowjetische Blockade Westberlins. Die Eisenbahnstrecken zwischen der Bi- und der Ostzone sowie innerhalb Groß-Berlins waren wieder frei. Der Westteil der inzwischen gespaltenen Stadt hatte sich verwaltungsmäßig konsolidiert und nahm an der Bonner Staatsbildung teil (vgl. BM 5/99). Einen schwachen, leicht angreifbaren Punkt gab es aus westlicher Sicht. Das gesamte Eisenbahnsystem West-Berlins (Fern- und S-Bahn) blieb weiterhin in östlicher Hand und somit ein potentieller Stör- und Bedrohungsfaktor. Da das Blockadeende im wesentlichen nur den Status quo ante wiederhergestellt hatte, hielt man »Nachbesserungen« für dringlich. Die UGO-Aktion verfolgte also primär ein politisches Ziel: Eliminierung von östlicher Präsenz und Einflußnahme. Der Zeitpunkt ihrer Ausrufung war klug gewählt. Am 23. Mai 1949 begann in Paris eine Konferenz der Außenminister der Vier Mächte über Deutschland und Berlin.
Der Eisenbahnerstreik stand zwar nicht auf der Agenda, beeinflußte jedoch das Klima der Verhandlungen.
     Bevor das Lokalgeschehen geschildert wird, sei ein Blick auf die Rechtslage geworfen. Die Deutsche Reichsbahn in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) einschließlich Groß-Berlin unterstand nach Kriegsende der SMAD. Somit verwaltete die Reichsbahndirektion Berlin von ihrem damaligen Sitz am Schöneberger Ufer (US-Sektor) aus auch die

 

Demontierte Schienenstränge

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Bahnhöfe, Gleis- und Signalanlagen, den Zugpark, die Reparaturwerkstätten und sonstige Liegenschaften in West-Berlin. Sie stellte die dort beschäftigten Eisenbahner ein und entlohnte sie. Diese Rechtslage wurde von den Westmächten niemals – auch nicht nach dem Mauerbau 1961 – in Zweifel gezogen.
     An den ersten Streiktagen kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Beide Seiten gingen mit Steinwürfen, Knüppeln, Eisenstangen und Fäusten aufeinander los. Die Bahnpolizei griff wiederholt zur Schußwaffe. Es gab viele Verletzte. Um eine Wiederaufnahme des Verkehrs unmöglich zu machen, besetzten die UGO-Trupps Bahnhöfe, zerstörten Signalanlagen, durchschnitten Kabel und rissen Schienen heraus. Arbeitswillige Eisenbahner und Bahnpolizisten, die von aufgebrachten Streikenden bedroht und mißhandelt wurden, begaben sich in die »Schutzhaft« der Westberliner Polizei. Weil auf der Nordbahnstrecke noch Züge pendelten, warf man von der Brücke am S-Bahnhof Gesundbrunnen schwere Betonblöcke auf die Gleise. Gewaltsam wurde der Pendelverkehr mit Dampfzügen zwischen Wannsee und Potsdam verhindert. Heftige Auseinandersetzungen gab es um die S-Bahnhöfe Charlottenburg, Schöneberg, Tegel, Tempelhof, Westkreuz und Zoo. Tageszeitungen berichteten, der S-Bahnhof Charlottenburg hätte am 22. Mai viermal den »Besitzer« gewechselt. Hart umkämpft war in der
Nacht vom 22. zum 23. Mai der Bahnhof Zoo. Aus einer großen Menschenansammlung mit zumeist Jugendlichen auf dem Vorplatz erscholl der Ruf nach Erstürmung des Bahnhofs. Die Bahnpolizei gab Warnschüsse ab. Ein Fünfzehnjähriger wurde tödlich getroffen. Bevor die Lage außer Kontrolle geriet, griff britische Militärpolizei ein und übergab den Bahnhof der Westberliner Polizei. Die Bahnpolizei zog sich über den Stadtbahnviadukt in Richtung Lehrter Bahnhof zurück.
     Die Exzesse auf dem Bahngelände riefen die Besatzungsmächte auf den Plan. Der Leiter der Transportabteilung der SMAD, Generalmajor Kwaschnin, verlangte von den Westalliierten die Beendigung des Streiks, weil er sich gegen die sowjetische Oberaufsicht über das Eisenbahnwesen in ganz Berlin richte. Die drei westlichen Stadtkommandanten ordneten am 24. Mai 1949 an, daß »die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung« auf den S-Bahn- und Güterbahnhöfen der Westberliner Polizei übertragen werde. Die Bahnpolizei dürfe hinfort nur noch ihre Aufgaben zum Schutze von Transitgütern, Eisenbahnwaggons und technischen Anlagen wahrnehmen. Die Sowjets widersprachen nicht und ließen das Gros der Bahnpolizei aus West-Berlin abziehen. Somit trat eine Beruhigung der Lage ein, die Möglichkeiten für weitere Gespräche und Kompromisse eröffnete.
     Eine Lösung des Konflikts, bei dem es ja nicht nur um die Lohnzahlung in DM (West)
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ging, kam allerdings nicht in Sicht. Die Reichsbahndirektion vereinbarte mit der IG Eisenbahn im FDGB, ab 1. Juni 1949 die Löhne und Gehälter der Westberliner Beschäftigten in Höhe von 60 Prozent in DM (West) auszuzahlen und diese Quote entsprechend ihren Westmark-Einnahmen später zu erhöhen. Die politische Stoßrichtung war eindeutig: Die UGO, deren Abspaltung vom FDGB als unrechtmäßig betrachtet und deren Eisenbahnerstreik als »Putsch« bezeichnet wurde, sollte auf keinen Fall als gleichberechtigter Verhandlungspartner akzeptiert und somit der ostzonale FDGB für West-Berlin als zuständig deklariert werden. Aus diesem Grunde wurde auch ein Angebot der UGO, die angerichteten Schäden beheben zu wollen, abgelehnt. In einem Punkt mußte die Reichsbahndirektion einlenken: Sie nahm die angedrohte Entlassung von Streikenden und andere Repressalien zurück.
Titelblatt einer Broschüre des FDGB, herausgegeben 1949
Die UGO hatte es nicht eilig mit einem Abkommen, zumal der West-Magistrat den Streikenden Arbeitslosenunterstützung zahlte. Am 2. Juni 1949 sprachen sich die UGO-Eisenbahner in einer erneuten Urabstimmung gegen die von der Reichsbahndirektion in Aussicht gestellte 60prozentige Auszahlung ihrer Löhne und Gehälter in DM (West) aus. Der Streik ging weiter.
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Zwischenfälle und gewalttätige Ausschreitungen wie zu Beginn des Ausstandes unterblieben.
     Der UGO-Streik belastete nicht nur die Verhandlungen der vier Außenminister in Paris über die deutsche und Berliner Frage, er behinderte auch die Versorgung der Westsektoren auf dem Schienenweg, denn Arbeitsniederlegung und Zerstörungen bei der S-Bahn legten zugleich den Fernverkehr lahm. Am 3. Juni 1949 erörterten die vier Stadtkommandanten die Lage. Der westliche Vorschlag, Reichsbahn und FDGB sollten durch Vermittlung des Westberliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter mit der UGO verhandeln, wurde vom sowjetischen Kommandanten, der sich im Vorteil wähnte, abgelehnt. Er verlangte statt dessen den sofortigen Abzug der Westberliner Polizei von den S-Bahnhöfen als Voraussetzung für eine Normalisierung des Verkehrs.
     Eine erneute Zuspitzung gab es in der Nacht vom 8. zum 9. Juni 1949. Rund 200 UGO-Leute, offenbar von der zuständigen Besatzungsmacht protegiert, besetzten handstreichartig das Gebäude der Reichsbahndirektion am Schöneberger Ufer (US-Sektor). Die Eingedrungenen wurden von sowjetischen Offizieren mit vorgehaltener Pistole aus dem Gebäude gedrängt. Eine Barrikade um das Direktionsgebäude mußte beiseite geräumt werden. Den Vorfall nahm die Reichsbahndirektion zum Anlaß, ihren Sitz nach Ost-Berlin zu verlegen.
Inzwischen stauten sich die Militär und Versorgungszüge aus den Westzonen, auch der Postverkehr war gestört. Auf Dauer war dies ein unhaltbarer Zustand. Den Vorschlag der UGO, der West-Magistrat möge einen Eisenbahnnotdienst zur Gewährleistung des Interzonenverkehrs einrichten, wiesen die drei Stadtkommandanten mit dem Hinweis zurück, daß »der gesamte Eisenbahnbetrieb nach einem Kontrollratsbeschluß unter sowjetischer Kontrolle stehe«. Nach Rücksprache mit ihrem sowjetischen Kollegen forderten sie die UGO auf, der Vereinbarung der Reichsbahndirektion mit dem FDGB über einen 60prozentigen Westgeldanteil zuzustimmen. Eine Urabstimmung der UGO-Eisenbahner vom 14. Juni 1949 lehnte das Angebot wiederum ab. Am 21. Juni 1949 bestellten die drei Stadtkommandanten die Führungen des West-Magistrats und der UGO zu sich und wiesen sie an, den Streik umgehend zu beenden. Als weitere Tage vergingen, ohne daß etwas geschah, ordneten sie am 25. Juni 1949 die Arbeitsaufnahme mit der Begründung an, eine »Verlängerung des Streiks (erscheine) als nicht mehr gerechtfertigt«, weil er »auf das soziale und wirtschaftliche Leben Berlins ... ernstliche Auswirkungen« habe, ferner »ein Hindernis zum freien Lauf des Handels zwischen Berlin und dem Westen« geworden sei und den Westmächten »eine ungerechtfertigte Last (aufbürde) durch die Verpflichtung, auf dem Luftwege Verbrauchsgüter nach Berlin zu
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schaffen, welche normalerweise auf dem Schienenwege befördert werden sollten«.
     Nach 38 Streiktagen nahmen am 28. Juni 1949, 8 Uhr morgens, die Westberliner Eisenbahner ihre Arbeit wieder auf. Der normale S-Bahn- und Fernbahn-Verkehr in West-Berlin begann am 1. Juli 1949, nachdem die erheblichen Zerstörungen an den Gleisanlagen und technischen Einrichtungen behoben waren. Die Reichsbahndirektion bezifferte die Schäden auf 50,6 Millionen DM (Ost).
     Der Eisenbahnerstreik, den man im Osten »UGO-Putsch« nannte, endete mit einem mageren Ergebnis. Die letztlich erreichte Vereinbarung im Lohnumtausch hätte man schon nach der ersten Streikwoche haben können. Auch das politische Ziel der Beseitigung einer »ostzonalen Exterritorialität« inmitten von West-Berlin verfehlte man. Der Reuter-Magistrat klagte im Oktober 1949: »Der Zustand, daß inmitten des Hoheitsgebietes der drei westlichen Militärmächte und des verfassungsmäßigen Magistrats ein so lebenswichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens wie der Eisenbahnbetrieb einer anderen Hoheitsgewalt sogar mit weitgehend angemaßten Polizeibefugnissen unterworfen ist, erscheint auf die Dauer unerträglich.«
Wie die Aufhebung der Blockade im Mai 1949 kein Ende der Berliner Krise brachte, so ging auch der Kalte Krieg um die S-Bahn weiter. Die Reichsbahndirektion in der SBZ hielt sich nicht an einige Abmachungen und Zusicherungen. Maßregelungen und Schikanen gegenüber Westberliner Eisenbahnern gingen weiter. Immer wieder gab es östliche Behinderungen im Eisenbahnverkehr von und nach West-Berlin. Der Westen hielt aber dagegen. Zu Beginn der fünfziger Jahre ereigneten sich viele Zwischenfälle auf dem Westberliner Reichsbahngelände, die in ihrer Art und Härte an den UGO-Streik erinnerten. Die Ermordung des Dienststellenleiters Ernst Kamieth durch den Westberliner Polizeiinspektor Hermann Zunker im Bahnbetriebswerk Potsdamer Güterbahnhof am 7. November 1951 bildete dabei einen traurigen Höhepunkt.

Bildquelle: Archiv LBV,
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