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Angelika Iwitzki
Neu-Ruppin, zu haben bei Gustav Kühn

Versuch einer ersten Auswertung, das Gesamtwerk des Verlages zu erfassen

Bilderbogen, heute sehr begehrte und nur noch selten auf dem Markt oder auf Auktionen auftauchende Sammlerobjekte, waren zu ihrer Zeit auf billigem Papier gedruckte Gebrauchsgrafik, die nach dem Betrachten und Lesen meist weggeworfen wurden. Das ist der Grund, warum von den in hohen Auflagen (oft bis 40 000 Stück pro Motiv, in Einzelfällen weitaus höher) erschienenen Neuruppiner Bilderbogen nur relativ wenige Exemplare die Zeiten überdauert haben.
     Bilderbogen sind Einblattdrucke, die speziell im 19. Jahrhundert hauptsächlich bei der Landbevölkerung und den ungebildeten Schichten in den Städten weite Verbreitung fanden. Durch einen kurzen, einfachen Text und die große bildliche Darstellung waren sie leicht verständlich und wegen ihrer billigen Herstellungsweise auch für viele erschwinglich. Die Bilderbogen umfassen die ganze Bandbreite des Interesses der breiten Masse: Heiligenbilder und Haus-

segen, Porträts von Herrschern und ihren Familien, Märchen-, Spiele- und Ausschneidebögen für die Kinder, Genrebilder und vor allem Aktualitätenbilderbogen. Gerade letztere befriedigten die Neugier der Menschen. Sie berichteten nicht nur über Kriege, Aufstände, Unglücke, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen von bekannten Persönlichkeiten, sondern zeigten mit großen bunten Bildern das Ereignis auch sehr anschaulich. Die Bilderbogen sind somit als Vorläufer der heutigen illustrierten Zeitungen zu betrachten.
     Die brandenburgische Kreisstadt Neuruppin gehörte zu den führenden Herstellungsorten von Bilderbogen, eigentlich war sie ein Zentrum des europäischen Bilderbogens. »Neu-Ruppin, zu haben bei Gustav Kühn« – besonders bei Theodor Fontane begegnet einem dieser werbewirksame Satz immer wieder. Noch bis Anfang unseres Jahrhunderts war dieser Slogan ein geflügeltes Wort. Wenn auch die Firma Gustav Kühn erst im Zweiten Weltkrieg ihre Pforten endgültig schließen mußte, so ist die Blütezeit des Neuruppiner Bilderbogens untrennbar mit der Person von Gustav Kühn (1794–1868) verknüpft, der den Verlag von 1822 an fast 40 Jahre lang leitete. Er war ein echter »Bilderbogenmann«, der nicht nur ein großartiges Gespür für alles, was gerade »in« war hatte, sondern der auch eine Vielzahl seiner Bilder selbst zeichnete und sie oft mit eigenen Texten und Gedichten ver-
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sah. Er hatte sozusagen sein Ohr am Puls der Zeit, brachte aktuelle Ereignisse umgehend auf den Markt und traf mit seinen humorigen Versen, die stets als Maxime Königstreue, Recht und Ordnung vertraten, den Nerv seiner Kundschaft.
     Der Verlag Gustav Kühn gab während der Zeit seines Bestehens von rund 120 Jahren etwa 10 000 verschiedene Motive in unterschiedlich hohen Auflagen heraus, einzelne Bilderbogen aus dem Krieg 1870/71 sollen sogar eine Auflage von zwei Millionen Bogen gehabt haben.

»Feierlicher Umzug S. M. Friedrich Wilhelm IV. von Preussen am 21ten März 1848 zu Berlin.«
Die genaue Anzahl der Motive läßt sich nicht mehr ermitteln, da wahrscheinlich keine vollständigen Lieferverzeichnisse oder Musterbücher geführt wurden und auch kein Verlagsarchiv existiert. Allerdings hat der Verlag Gustav Kühn wohl sporadisch Lieferverzeichnisse herausgegeben, von denen jedoch nur vier bekannt sind (ein Katalog von 1853 mit etwa 900 Titeln wurde von Gertraud Zapernick für ihr Buch »Neuruppiner Bilderbogen« benutzt, jedoch konnte er bisher nicht gefunden werden; weitere Kataloge aus den Jahren 1865, 1866 und 1895 befinden sich im Museum für Volkskunde Berlin). Der heutige Forscher ist daher auf systematische Sucharbeit und Zufallsfunde angewiesen. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es jedoch ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, das Gesamtwerk Gustav Kühns lückenlos erfassen zu wollen.
     Während einer mehrjährigen Forschungsarbeit hat die Autorin mehr als 150 Museen, Archive, Bibliotheken und Privatsammler angeschrieben oder dort vor Ort recherchiert. Dabei wurde nach folgenden Kriterien vorgegangen:
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–     der geographische Bezug zu Neuruppin: alle Heimatmuseen in der näheren und weiteren Umgebung von Neuruppin;
–     der geschäftliche Bezug zum Verlag Gustav Kühn: Länder, zu denen Kühn besonders enge Geschäftsbeziehungen hatte (Skandinavien, Osteuropa);
–     der fachliche Bezug zu Bilderbogen: alle großen Volkskundemuseen in Deutschland und Europa.
     Bisher gab es 84 positive Rückmeldungen. Es haben sich fünf Standorte mit einem überproportionalen Bestand an Kühnschen Bilderbogen herauskristallisiert:
1.     das Heimatmuseum Neuruppin, das durch den Erwerb der Hecht-Sammlung 1994 seinen ohnehin großen Bestand um etliche tausend Bilderbogen erweitern konnte;
2.     das Museum für Volkskunde Berlin, das Neuruppiner Bilderbogen seit gut 30 Jahren zu einem Schwerpunkt seiner Sammeltätigkeit gemacht hat;
3.     das Ryksmuseum in Arnheim/Holland;
4.     das Nationalmuseet – Dansk Folkemuseum Brede in Lyngby/ Dänemark;
5.     die Kongelige Bibliotek in Kopenhagen/ Dänemark.
»Bestattung der für die Freiheit gefallenen Kämpfer, den 22. März 1848.«
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Daß sich zwei der größten Bestände in Dänemark befinden, weist auf die Wichtigkeit der Geschäftsbeziehung zwischen Kühn und Dänemark hin, der dort einen großen Absatzmarkt für seine Bilderbogen fand, die er selbstverständlich mit dänischen Titeln und Texten lieferte. Das Nachforschen in Museen, Archiven und Bibliotheken ist zwar mühevoll und zeitaufwendig, doch ist durch genaues Sichten entsprechender Nachschlagewerke eine Systematik gegeben. Das Aufspüren von Privatsammlungen ist hingegen vom Zufall bestimmt. So konnten auf der Tagung der Papiersammler »Bild Druck Papier« in Straßburg 1996 vier Privatsammlungen ausfindig gemacht werden, und zwar
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in der Schweiz, in Paris, in den USA und in Mailand.

Problem Numerierung

Bisher konnten 5 885 Bilderbogen von der auf über 10 000 Bogen geschätzten Produktion des Verlages Gustav Kühn erfaßt werden. In den ersten Jahren der Herausgabe wurden sie nicht numeriert. Gerade von den frühen Holzdrucken, die noch von Bernhard Kühn (1750–nach 1815), dem Vater Gustav Kühns, stammen, aber auch von Gustavs vor 1835 herausgegebenen Bilderbogen dürften viele unwiederbringlich verloren sein. Auch ist unbekannt, was und wieviel gedruckt wurde. Häufig sind Bilderbogen auch schadhaft, so daß der Name des Verlages fehlt, eine eindeutige Zuordnung also unmöglich ist.
     Allgemein wird angenommen, daß Gustav Kühn mit der Numerierung seiner Bilderbogen im Jahr 1835 begann. In diesem Jahr hatte nämlich der zweite große Neuruppiner Bilderbogenverlag, die Firma Oehmigke & Riemschneider, mit der Produktion begonnen und seine Exemplare von Beginn an numeriert. Es liegt die Vermutung nahe, daß Kühn der Konkurrenz nicht nachstehen wollte, seine bisherige Produktion mit rund 1 000 Bogen ansetzte und mit der Nummer 1000 begann. Überhaupt ist die Numerierung der Kühnschen Bilderbogen ein Problem und bisher nicht eindeutig geklärt. Folgende Einteilung wurde für die Aufstellung zugrunde gelegt:

1.     Bogen ohne Nummer (eindeutig vor 1835)
2.     Standardnumerierung (ab No. 1 000 bis No. 10 425)
3.     Sondernumerierung (No. 1 bis No. 999)
4.     Schulheftumschläge (No. 331 bis No. 499)
5.     Skandinavische Bilderbogen
6.     Religiöse Bilderbogen mit hebräischem und polnischem Text (No. 6 001 bis No. 6 040)
7.     Bogen ohne Nummer (eindeutig nach 1835, d. h. schadhafte Bogen ohne Nummer)

     Zu 1:     Von den frühen Bogen ohne Nummer sind mir bisher 116 Titel bekannt. Hier ist das Problem, daß nicht mehr nachvollziehbar ist, wie viele Bogen es tatsächlich gegeben hat, jedoch ist davon auszugehen, daß es weitaus mehr waren.
     Zu 2:     Die Standardnumerierung ist die einzige relativ problemlos nachvollziehbare Numerierung, denn hier ist Kühn chronologisch vorgegangen. Aber auch hier gibt es Ungereimtheiten: Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund die gleiche Nummer manchmal zweimal vergeben wurde. Ungeklärt ist auch die Lücke von über 600 Nummern zwischen No. 3 370 und No. 3 999. Weiter fällt auf, daß es Perioden von einigen hundert Nummern gibt, die fast lückenlos erhalten geblieben, während andere teilweise recht spärlich besetzt sind. Hier muß der

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Frage nachgegangen werden, ob es an den Titeln gelegen haben kann (besonders aufhebenswerte Bogen, die man als Haussegen oder Hausschmuck verwenden konnte) oder ob die Auflagen besonders hoch waren.
     Zu 3:     Eine Logik bei der Sondernumerierung ist hingegen nicht erkennbar. Viele Bogen, die man zeitlich festlegen kann, stammen aus dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts. Zuweilen tauchen Bilderbogen identischen Inhalts sowohl in der Sondernumerierung wie auch in der Standardnumerierung auf. Meist handelt es sich um Märchen oder Bilderfolgen. Welcher Zweck mit dieser Doppelnumerierung verfolgt wurde, läßt sich bisher nicht feststellen. Überhaupt ist bei der Sondernumerierung auffällig, wie viele Nummern nicht nur doppelt, sondern drei- und vierfach vergeben wurden, so daß der Eindruck entsteht, diese Nummern wurden ohne System erteilt.
     Zu 5:     Eine weitere Ungereimtheit ist die Numerierung der skandinavischen Blätter. Der Verlag Kühn gab Bilderbogen in dänischer, schwedischer und finnischer Sprache heraus. Oft wurden aber auch die Kühnschen Bilderbogen von den dortigen Geschäftspartnern unter deren Firmennamen herausgegeben, wie z. B. von Steen & Son in Kopenhagen oder der Firma Huldberg in Stockholm. Auch hier läßt sich nicht nachvollziehen, welche Bogen in der jeweiligen Landessprache mit der Druckangabe »Gustav Kühn, zu haben in Neu-Ruppin« oder
von den dortigen Geschäftspartnern auf den Markt kamen. Es scheint anfänglich eine chronologische Numerierung der skandinavischen Blätter von 1 bis etwa 1 200 gegeben zu haben. Bogen mit schwedischem Text bekamen manchmal an die Nummer ein s, doch dann tauchen in den 9 700er Nummern Märchenbogen auf, die mit deutschem und mit dänischem Text unter der gleichen Nummer vertrieben wurden, die dänischen Nummern erhalten nunmehr ein d angefügt.
     Zu 6:     Diese Systemlosigkeit läßt sich auch an einem anderen Beispiel nachweisen. Die Bogennummern 6 001 bis 6 040 zeigen religiöse Darstellungen mit hebräischen und polnischen Texten. Diese Titel befinden sich in dem Verzeichnis der lieferbaren Bilderbogen aus dem Jahre 1865, obwohl die Bogen ab No. 5 317 (also rund 700 Nummern vorher) den Krieg Deutschlands gegen Frankreich 1870 zeigen. Außerdem sind auch diese Nummern zweifach besetzt. Daraus läßt sich zwar schließen, daß der Verlag Kühn Bilderbogen in anderen Sprachen mit einer eigenen Numerierung herausgab, warum aber diese Bogen mit der Nr. 6 001 beginnen, bleibt offen.

Zuordnung der Bilderbogen

Für diese Arbeit wurden die Bilderbogen in folgende Gattungen eingeteilt:

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Aktualitäten: aktuelle Tagesereignisse, Serien über Kriege und Revolutionen, Porträts, Darstellungen aus Herrscherhäusern;
Devisen: Devisen, Sprüche, Blumenkränze mit und ohne Text, Einwickelpapier für Konditoren, Briefmarken, Ziffernblätter;
Genre: Genremotive, Witze, Wirtshausbilder;
Guckkastenbilder: Ansichten von Städten und Landschaften;
Kinderbogen: Anschauungsbogen (Tiere, Blumen etc.), Ausschneidebogen, Ankleidefiguren, ABC-Bogen, Schachtelspielzeug, Ziehfiguren, Laubsägevorlagen, Heftumschläge, Märchen, Bildergeschichten, Soldatenbogen, Scheibenbilder, Theaterdekorationen und -figuren, Volksüberlieferungen, Historienbilder;
Religiöse Bilder: Haussegen, Heiligenbilder, Krippenbilder.

     Die Grafiken zeigen den prozentualen Anteil der einzelnen Gattungen an der Gesamtzahl der bisher erfaßten Bilderbogen und die Thematik der Kinderbogen.


Kinderbogen


Verteilung der Bilderbogen

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© Edition Luisenstadt, 1999
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