32   Probleme/Projekte/Prozesse Erste Professorin  Nächste Seite
den. Der Lebensweg von Lydia Rabinowitsch- Kempner führte sie von Kowno (Kaunas) in Litauen nach Bern in der Schweiz, von Bern nach Berlin, von Berlin nach Philadelphia in den USA und schließlich wieder nach Berlin.
     Sie wurde am 28. August 1871 als jüngstes Kind in der Familie eines Brauereibesitzers in Kowno in Litauen geboren. Die Familie war recht wohlhabend und ließ fast alle ihre neun Kinder studieren. Ein Bruder wurde Frauenarzt und besaß eine Klinik in Kowno, einer wurde Zahnarzt, ein Bruder war Kaufmann in Wladiwostok, eine Schwester studierte Jura. Lydia studierte Medizin. Es gab für sie zu dieser Zeit als Mädchen, noch dazu aus jüdischer Familie, nur eine Möglichkeit – sie mußte in die Schweiz gehen. Sie entschied sich für Bern und promovierte hier 1894 mit einer Arbeit zur »Entwicklungsgeschichte der Fruchtkörper einiger Gastromyzeten«. In Bern lernte sie viele weitere Studentinnen kennen, darunter aus Deutschland und aus Amerika.
     Mit ihrer Familie in Kowno blieb sie zeitlebens im Kontakt. Sohn Robert schreibt: »Ihre Muttersprache war Russisch ... Leider haben wir als Kinder nie Russisch gelernt ... Die Verbindung zu unseren Russischen Verwandten war im Ersten Weltkrieg überhaupt nicht abgebrochen, da ja Kowno und Litauen jahrelang von der deutschen Armee besetzt waren und man sogar Lebensmittel von dort bekam. Anders wurde die Sache später im
Annette Vogt
Der »Milch-Skandal« machte sie berühmt

Lydia Rabinowitsch- Kempner – die erste vom Kaiser ernannte Professorin in Berlin

Im Rahmen von Untersuchungen über Frauen in den (Natur-) Wissenschaften begegnete ich auch dem Namen von Lydia Rabinowitsch- Kempner (1871–1935), die 1912 als zweite Frau in Preußen, als erste in Berlin, den Professorentitel verliehen bekam. Dies geschah zu einer Zeit, als Frauen in Preußen erst seit vier Jahren das Recht besaßen, sich immatrikulieren zu lassen, sich aber nicht habilitieren durften. Durch diese Ausgrenzung konnten sie kein »ordentlicher deutscher Professor« werden. Lydia Rabinowitsch- Kempner war zwar ernannte Professorin, aber sie durfte keine Lehrveranstaltungen abhalten.
     Die Autobiographie des Juristen und Chefanklägers von Nürnberg, Robert Kempner (1899–1993), haben sicher viele gelesen. Das Leben seiner Mutter Lydia Rabinowitsch- Kempner ist fast unbekannt. Sie gehörte zu den vielen jüdischen Gelehrten in Berlin bzw. Deutschland, die nach 1933 – wenn sie nicht ermordet wurden – aus ihren Berufen verdrängt, aus ihrem Land vertrieben wur-

SeitenanfangNächste Seite


   33   Probleme/Projekte/Prozesse Erste Professorin  Vorige SeiteNächste Seite
Zweiten Weltkrieg. Die Verwandten meiner Mutter wurden alle vernichtet. Zunächst durch Einsatzgruppen und dann durch andere Judenverfolgung. In Nürnberg habe ich nachgeforscht ... Ich habe versucht, Näheres herauszukriegen, ..., aber das ist mir nicht gelungen.«1)
     Als Lydia 1894 ihr Studium mit der Promotion beendet hatte, zog es sie nach Berlin, weil sie das neue Gebiet Bakteriologie kennenlernen wollte. Sie ging zu Robert Koch (1843–1910), der seit 1891 das Institut für Infektionskrankheiten leitete, das später nach ihm benannt wurde.2) Aber als Frau in Preußens Hauptstadt bekam sie keine Chance, als Wissenschaftlerin arbeiten zu können. Hier durften Frauen seit 1895 die Universität gerade mal als Hörerin betreten, und auch nur nach »gnädiger« Erlaubnis der Herren Professoren; die Mehrheit der Professoren war noch strikt gegen das Studium von Frauen, geschweige denn für eine wissenschaftliche Tätigkeit. So fuhr sie nach Philadelphia, weil sich ihr in Amerika bessere Chancen boten. Hier gab es ein Medizin- College, das ausschließlich für Frauen existierte, und hier wurde sie 1897 – mit 26 Jahren – Professorin für das neue Gebiet Bakteriologie. In den Semesterferien fuhr sie nach Berlin, am Robert-Koch- Institut lernte sie den jungen Wissenschaftler Walter Kempner (1870–1920) kennen. Sie verliebten sich und standen vor dem Problem, wo arbeiten und miteinander leben ...
In jenen Jahren gab es bereits ein berühmtes Forscher- Ehepaar – die Physiker Marie (1867–1934) und Pierre (1859–1906) Curie in Paris. In Berlin gründete um diese Zeit (1898) Oskar Vogt (1870–1959) ein privates Laboratorium für Hirnforschung, aus dem später das Kaiser-Wilhelm- Institut für Hirnforschung entstand. Er holte seine Frau Cécile Mugnier (1875–1962) von Paris nach Berlin, um es den Curies nachzutun. Auch Lydia und Walter entschlossen sich, in Berlin zu leben und am Robert-Koch- Institut zusammen zu arbeiten. Sie heirateten 1898 in Madrid – auf einem internationalen medizinischen Kongreß, was außergewöhnlich war und worüber verschiedene Zeitungen berichteten.
     Ein Jahr nach der Hochzeit, 1899, wurde der erste Sohn Robert geboren; Robert Koch war der Taufpate. Es folgten die Tochter Nadeshda, eine spätere Philologin, und 1903 Sohn Walter, der Mediziner wurde. Berühmt wurde Lydia durch den »Berliner Milch-Skandal«. Sie konnte nachweisen, daß die Milch in der Meierei Bolle Tuberkelbazillen enthielt. Den Prozeß gewann das Forscher- Ehepaar, und Lydia wurde eine stadtbekannte Frau.3)
     In der Familie sprach man englisch, die Kontakte nach Amerika pflegte Lydia auch weiterhin. Die Kinder wuchsen in einem liberalen Elternhaus auf, wohlbehütet und privilegiert. Sohn Robert erinnert sich: »>Die Lydia< war eine weithin bekannte öffentliche
SeitenanfangNächste Seite


   34   Probleme/Projekte/Prozesse Erste Professorin  Vorige SeiteNächste Seite
Person, auch weil sie die einzige Frau in ihrer Branche war. Allein über die Rindertuberkulose hat sie, teils gemeinsam mit meinem Vater, circa fünfzig Aufsätze geschrieben. Mein Vater, der die besondere wissenschaftliche Begabung seiner Frau erkannt hatte, förderte sie bei ihren Arbeiten mit besonderer Liebe, auch wenn er selbst dabei etwas im Hintergrund stand. Er starb 1920 früh an Kehlkopftuberkulose.«4)
     Wie bekannt Lydia war, geht aus einem kleinen Detail hervor: Sie wurde – als eine von ganz wenigen Frauen – in das zweibändige »Handbuch der Deutschen Gesellschaft«, das 1930 in Berlin erschien, aufgenommen, und zwar mit Fotografie!5) Die Familie wohnte in Lichterfelde, besaß ein Haus, hatte internationale Freunde, liberale Kollegen – alles schien in Ordnung. 1912 geschah etwas Unerhörtes – Lydia bekam den Professorentitel verliehen. Und sogleich gab es wüste Anfeindungen. Robert Kempner schreibt: »Wenn man in einer etwas international zusammengesetzten Familie lebte, dann war man gegenüber gewissen Erscheinungen wie Antisemitismus schon von früh an sehr hellhörig. Ich habe das auf der Schule in Lichterfelde erlebt, wo schon antisemitische Hetzer in der Klasse waren, und von Anfang an geglaubt, daß das eine eingewurzelte Sache ist, die nicht durch übertriebenes Deutschtum weggeschafft werden kann. Als meine Mutter ... den Titel >Professor< bekam, da stand in einer antise-
mitischen Zeitung – >Die Wahrheit< hieß das Drecksblatt – ein scharfer Angriff auf Wilhelm, daß er ausgerechnet einer Frau jüdischer Abstammung als erster den Professortitel gegeben habe und noch dazu einer, die nicht in Deutschland geboren war. Damals gab es schon die übliche Anzeige, die nichts nützte und mit fünfzig Mark Geldstrafe endete. Ich bin allergisch gegen diese Dinge und habe sie nie für harmlos gehalten.«6)
     Mit dem Professorentitel war jedoch keine Anstellung an der Universität verbunden. Ihr Gesuch zur Habilitation, die die Voraussetzung für eine akademische Karriere war, wurde von der Medizinischen Fakultät der Universität abgelehnt. Erst ab 1919 durften sich Frauen in Deutschland habilitieren. Als sich nach der Novemberrevolution die Bedingungen für die Berufstätigkeit von Frauen verbesserten, war Lydia für eine Wissenschaftlerinnenlaufbahn schon zu alt. Aber sie erhielt nach 1918 die Direktorenstelle des Bakteriologischen Instituts am Berliner Krankenhaus Moabit. Außerdem gab sie die »Zeitschrift für Tuberkulose« heraus. Wichtig auch deshalb, weil sie nach dem Tode ihres Mannes die Ausbildung ihrer Kinder allein sichern mußte.
     Mit dem sogenannten »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 wurde Lydia Rabinowitsch- Kempner zwangspensioniert. Nachdem sie noch einige Monate die »Zeitschrift für
SeitenanfangNächste Seite


   35   Probleme/Projekte/Prozesse Erste Professorin  Vorige SeiteNächste Seite
Tuberkulose« redigierte, wurde ihr auch die Redaktion weggenommen. Ein »Nichtnazi«, wie Robert in seinen Memoiren betont, nahm die Redaktion an sich, ohne Widerstand zu leisten. Nur wegen eines eventuellen internationalen Aufsehens – Lydia sollte in dieser Zeit in Rom auf einem Kongreß auftreten – durfte sie bei der Zeitschrift noch einige Wochen bleiben. Sohn Robert wurde aus dem Ministerium entlassen – aus politischen Gründen, wie er später stolz betonte – und arbeitete in einer Organisation, die verfolgten deutschen Juden half, das Land zu verlassen. Für Lydia begannen schwere Zeiten, wie ihr Sohn Robert beschreibt: »Ich fuhr früher mit meiner Mutter sehr oft morgens in die Stadt, sie ging ins Krankenhaus Moabit und ich zum Kriminalgericht oder Innenministerium. Als eines Tages die ersten Hakenkreuzfahnen in den Straßen erschienen, fing sie im Auto neben mir furchtbar zu weinen an. Ich fragte: >Mutter, was ist denn los?< Da hob sie ihre Hand, deutete auf die Fahnen und sagte: >Jetzt wird hier der Pogrom anfangen.<
     Meine Mutter, die in Kowno geboren war, kannte natürlich von ihren Eltern solche Pogromgeschichten und hat sie wahrscheinlich in ihrer Jugend erlebt ...
     Seit dem Tage, wo sie angesichts der Fahnen geweint hatte, wußte sie, was da hochkam. Ich begriff das noch nicht ganz ... Bei allem Mißtrauen blieb es ihr im innersten Wesen rätselhaft, wie jetzt in Deutschland
das passieren konnte, was in Rußland vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, und daß jetzt auf einmal in Berlin sie, die von Wilhelm II. den Professoren- Titel erhalten hatte, rausgeschmissen wurde. Dann hat sie zu Hause gesessen und überlegt: Wo kann ich hin? Von einem Bleiben war bei uns nie die Rede.«7)
     Lydia schrieb an ihre amerikanischen Freundinnen in Philadelphia und bat sie, ihren Kindern zu helfen. Walter emigrierte 1934 in die USA und ging an die Medical School der Duke University. Er wurde später in Amerika berühmt, weil er die sogenannte Kempner-Reis- Diät praktizierte. Tochter Nadeshda ging nach Großbritannien. Robert, der in der Organisation zur Vorbereitung der Auswanderung arbeitete, wurde im Mai 1935 von der Gestapo verhaftet, kam aber frei. Lydia hatte ihm mit ihren Beziehungen noch helfen können. Er ging mit seiner Frau zunächst nach Italien, dann rettete er sich und seine Familie im August 1939 nach Amerika – Dank der Freundinnen seiner Mutter. Die eine schrieb ihm (1938): »Ich habe Ihrer Mutter im Jahre 1898 geraten, in Philadelphia zu bleiben und den Mann nachkommen zu lassen, anstatt zu ihm nach Deutschland zurückzukehren.«8)
     Lydia war schon sehr krank und lehnte es deshalb ab, noch zu emigrieren. Nachdem ihre drei Kinder vor den Nazis in Sicherheit waren, starb sie am 3. August 1935 in Lichterfelde und wurde auf dem Gemeindefried-
SeitenanfangNächste Seite


   36   Probleme/Projekte/Prozesse Erste Professorin  Vorige SeiteAnfang
hof beigesetzt. Das Haus hatten die Kinder verkaufen müssen – nicht einmal Robert Kempner gelang es, es in den 50er Jahren zurück zu erhalten, es sei ja »rechtens« verkauft worden.9)
     Um das Grab kümmerte sich eine Frau Dr. Allard, sie war von einem Blumenverkäufer deshalb denunziert worden; der Denunziant besaß die Frechheit, dies Robert bei einem späteren Besuch zu erzählen.
     In den späten 80er Jahren begannen Frauen und Männer in Berlin sich für Geschichte und Geschichten aus dem Kiez zu interessieren. So entstanden zwei Broschüren, in denen auch an Lydia Rabinowitsch- Kempner erinnert wird.10)

Quellen:
1     Robert Kempner: M. W. Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. In Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt am Main/Berlin/Wien, Ullstein- Verlag, 1983, S. 15 (im folgenden Kempner (1983)
2     Vgl. zum Robert-Koch- Institut: Klaus Gerber: Bibliographie der Arbeiten aus dem ROBERT-KOCH- INSTITUT. 1891–1965, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1966. Hier sind auch die Publikationen von Lydia Rabinowitsch- Kempner und Walter Kempner aufgelistet.
3     Vgl. Kempner (1983), S. 19; Vgl. Christian Pross/Rolf Winau: Nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit, Edition Hentrich, Berlin 1984, S. 149–151. Und vgl. Katharina Graffmann- Weschke: Frau Prof. Dr. Lydia Rabinowitsch- Kempner. Die füh-

rende Wissenschaftlerin in der Medizin ihrer Zeit, In: Weibliche Ärzte, hrsg. von Eva Brinkschulte, Edition Hentrich, Berlin 1994, S. 93–102
4     Kempner (1983), S. 20
5     Vgl. »Handbuch der Deutschen Gesellschaft«, Berlin, 1930, Bd. 1, S. 908
6     Kempner (1983), S. 125
7     Ebenda, S. 135 f.
8     Ebenda, S. 147
9     Ebenda, S.381–382
10     Georg Lichtenberg/ Bettina Münchmeyer/ Wolfgang Wölk: Spurensuche in Steglitz. Persönlichkeiten prägen einen Bezirk, Berlin 1987, S. 119–120; Marlene Kotzur: Steglitz – Frauen setzen Zeichen, Berlin 1990, S. 93–95
SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de