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Thea Koberstein
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg

Papier und Kuverts waren grau und die Zeiten auch. Wer in der Kaserne oder im Unterstand saß, hatte nichts Freundliches zu berichten. Und doch drängte es die jüdischen Frontsoldaten, ihrem »sehr geehrten Herrn Direktor« zu schreiben. Der Empfänger der Briefe, Dr. Siegmund Feist, leitete das Reichenheimsche Waisenhaus im Norden Berlins. Er pflegte diese Korrespondenz mit ehemaligen Zöglingen, die längst seiner Obhut entwachsen waren. Und er sammelte sorgsam, was er bekam – Briefe, Karten, Fotos und Zeichnungen. Heute werden sie von der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« als wertvolle Dokumente verwahrt. Sie geben Auskunft über das Leben junger Juden in Deutschland vor mehr als 80 Jahren. Damals hielten es viele für selbstverständlich, für das Kaiserreich in den Krieg zu ziehen. Sie sollten und wollten »fürs Vaterland« kämpfen, was ihnen später niemand dankte. Die Hoffnung, daß sich nach ihrem patriotischen Einsatz ihre gesellschaftliche Stellung verbessern würde, hat sich, wie man weiß, nicht erfüllt.
     Übrigens hielt die Begeisterung nicht lange an, und nur mit Mühe war der tägliche

Drill zu ertragen. Julius Markus, Musketier und Krankenträger, schrieb 1915 an seinen Direktor: »Die Erziehung im Waisenhaus trägt viel dazu bei, daß mir das Leben als Soldat nicht so schwer fällt. Wir werden morgens um 4.00 Uhr geweckt und es muß sofort das Bett in Ordnung gebracht werden, so, wie ich es gelernt habe, sonst gibt es keinen Ausgang.« Diese Zeilen waren nicht ironisch gemeint. Nicht nur Markus glaubte, gut fürs Leben vorbereitet zu sein. Die meisten der 745 Feldpostbriefe, die Dr. Feist während der vier Kriegsjahre erhielt, enden mit den Worten: »Ihr dankbarer Zögling«.
     Im Reichenheimschen Waisenhaus galt seit seiner Gründung 1872 das Prinzip der absoluten Autorität. Und auch unter Dr. Feist, der 1906 seinen Posten als Direktor antrat, war es nicht anders. Jeden Morgen vor dem Frühstück wurde »angetreten«, leichte Vergehen wurden gemeldet, schwere bestraft. Die Abteilungen der Jungen und Mädchen waren streng getrennt und nur durch den Festsaal im ersten Stock verbunden. Die jüdischen Feste allerdings verbrachte man gemeinsam. Siegmund Feist und seine Frau Toni, Tochter des Offenburger Rabbiners Rawicz, richteten sie aus. Es waren Ereignisse, auf die sich alle Kinder freuten, auch die eigenen. Elisabeth Feist- Hirsch schrieb später: »Die schön gedeckte Sedertafel mit den silbernen Leuchtern, die Sederschüssel mit den symbolischen Speisen, die
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Knochen, Symbol des Opferlamms, die Mazza und der Wein stehen noch lebhaft vor meinen Augen. Mein Vater las aus der Haggada vor; besonders gefiel uns Kindern natürlich der Dialog auf die Frage: Wie unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?«
     Schöne Erinnerungen waren manchmal der einzige Trost für die Männer an der Front. Ihr Briefwechsel mit Feist half, sie wachzuhalten. Der Direktor half den ehemaligen Zöglingen auch in finanzieller Not, denn für sie existierte ein kleines Guthaben. Die Soldaten waren oft schlecht verpflegt, ja, sie litten Hunger. 33 Pfennig pro Tag betrug der Sold – zu wenig, um in der Kantine etwas dazu zu kaufen. Auch um die Angehörigen waren sie in Sorge. »Würden mich zu großem
Dank verpflichten, wenn Sie meiner Bitte nachkommen könnten«, schrieb Joseph Cohn. »Der Dienst würde noch einmal so leicht zu machen sein, wenn man seine Familie versorgt wüßte. Habe drei Kinder im Alter von sieben, vier und zwei Jahren.«
     Und so blieb Dr. Feist so etwas wie ein Vater, auch noch, als die Kinder wieder Kinder hatten. Mit 77 ehemaligen Zöglingen korrespondierte er während des Ersten Weltkrieges. Er schickte Geld, wenn es seine Schatulle erlaubte, und Zeitungen für die nach Informationen aus der Heimat hungernden Soldaten. Da war es selbstverständlich, daß sie sich, wenn möglich, revanchierten. Im Mai 1918 schrieb ihm der Sanitäter Herbert Czapski aus Warschau: »Sofort nach Empfang Ihrer Zeilen machte ich
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mich auf den Weg, um in der jüdischen Fleischmarkthalle nach koscherer Wurst zu fahnden, konnte diese aber nicht zum angegebenen Preis kaufen.« In Kriegszeiten wurde es auch für die Küche im Waisenhaus immer schwerer, die Speisengesetze einzuhalten.
     Czapski war Sanitäter in einer Nervenklinik, aber auch andere seiner Kameraden hatten pflegerische Aufgaben zu erfüllen. Sie suchten das Schlachtfeld nach Verwundeten ab oder holten sie, wohlwissend, daß ihr rotes Kreuz auf der Uniform keinen Schutz bot, aus der Gefechtslinie heraus. In langen Karawanen fuhren dann die Krankenwagen, von Pferden gezogen, durch zerstörte Dörfer in die Etappe. »Sie sollten, Herr Direktor, einmal die Wirkung eines Granatvolltreffers sehen. Es entstehen dadurch die scheußlichsten Verletzungen, die man sich denken kann«, schrieb der Unterarzt Otto Köhler 1915 aus Polen. Noch einen anderen Arzt gab es unter den ehemaligen Zöglingen – Adolf Wisotzki.
Er schrieb 40 Briefe und Karten und muß der Familie Feist besonders verbunden gewesen sein. 1937, als Elisabeth, eine der beiden Töchter, zum ersten Mal nach Amerika kam, erwartete er sie am Hafen, um sie zu begrüßen. Er lebte inzwischen als Gynäkologe in Yonkers.
     Sanitäter und Ärzte hatten in den letzten Kriegsjahren immer mehr zu tun, aber die Hoffnung, dem Inferno einigermaßen gesund zu entkommen, blieb wach. »Ich war
niemals Optimist in bezug auf ein frühzeitiges Kriegsende«, schrieb der Korporal Jacobowitz im April 1917 aus Polen. »Aber jetzt geht es zu Ende. Wen der große Sensenmann bis Oktober nicht hingemäht hat, der wird die Heimat wiederschaun.«
     Es dauerte noch mehr als ein Jahr, bis der Kanonendonner verstummte. Die Lage der Soldaten war katastrophal. »In unserer
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letzten Stellung lagen wir in Granatlöchern buchstäblich im Wasser und hatten keine Deckung gegen das fürchterliche Trommelfeuer«, berichtete Hans Senft aus Frankreich. »Da wir weder Lebensmittel noch Getränke bekamen, haben wir eben altes dreckiges Pfützenwasser getrunken. Dann haben wir Blätter gekaut.« Der Garde- Füselier starb am 6. Mai 1917. Er wurde 26 Jahre alt. Niemand weiß, ob er sich mit schlechter Nahrung vergiftete oder ob ihn eine Kugel traf. Hans Senft ist einer der über 12 000 jüdischen Gefallenen, die nach dem Krieg in Deutschland gezählt wurden. Auch die ehemaligen Zöglinge Arthur Michaelson, Jean Leidinger, Georg Luft und Bernhard Pinkus gehören dazu. Sie liegen auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin- Weißensee begraben, zusammen mit vielen anderen, im sogenannten Ehrenfeld.
     Es ist also nichts wahr an der nach dem verlorenen Krieg so oft wiederholten Behauptung, daß sich die Juden vor dem Dienst an der Front gedrückt hätten. Das wird durch die Feldpostbriefe der ehemaligen Waisenhauszöglinge ein weiteres Mal bestätigt. Heute sind sie eine Botschaft aus ferner Zeit, die leider immer noch gilt. »Alles, was Menschenhand geschaffen hat, ist in Grund und Boden geschossen worden«, stellte der Krankenwärter Paul Wohlgemuth im August 1918 verbittert fest und nannte damit nur ein Ergebnis des militärisch ausgetragenen Konflikts.
Wie sah der langersehnte Frieden für die Überlebenden aus? Wenig ist über das Schicksal der schreibenden Soldaten bekannt, mehr über den Empfänger der Briefe. Dr. Siegmund Feist leitete noch bis 1935 das jüdische Waisenhaus, dann ließ er sich pensionieren. Seine wissenschaftliche Arbeit als Germanist wurde von völkischen Hochschullehrern angefeindet. Er, der ablehnte, die Juden als Rasse anzusehen, und der sogar behauptete, daß die Germanen ein Volk primitiver Kultur seien, wurde von den Reaktionären verhöhnt. Auch seine bürgerliche Existenz als Jude war in Frage gestellt. Der letzte Ausweg war 1939 die Emigration nach Dänemark, die er nur vier Jahre überlebte.
     Es gibt verschiedene Vermutungen darüber, warum die an Feist gerichteten Feldpostbriefe erhalten geblieben sind. Eine davon lautet, daß die Gestapo die Wohnung des Ehepaars Feist durchsuchte und die Briefe konfiszierte. Und dann? Man weiß es nicht genau. Sie fanden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz an, als es seine im Zweiten Weltkrieg nach Merseburg ausgelagerten Bestände nach Berlin zurückholte. 1995 wurden die Feldpostbriefe dem Archiv des Centrum Judaicum übergeben. In ihnen finden sich Spuren, die es lohnt, sie weiterzuverfolgen.

Bildquelle:
Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«

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© Edition Luisenstadt, 1997
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