116   Im Detail Exklaven  Nächstes Blatt
Bernhard Meyer
Das kleine Steinstücken und die große Politik

Westberliner Exklaven auf DDR-Gebiet

Zu Zeiten des Kalten Krieges geriet das winzige bewohnte Fleckchen Steinstücken wiederholt in das politische Räderwerk der beiden Großmächte Sowjetunion und USA und damit auch in die internationalen Schlagzeilen. Mehrmals wurden Versuche der DDR registriert, Steinstücken als Bestandteil des von den US-Amerikanern besetzten Bezirks Zehlendorf abzutrennen. Allerdings meldeten die Medien am 30. August 1972, dass eine Verbindungsstraße zwischen dem Ortsteil Kohlhasenbrück (Bezirk Zehlendorf) und der Exklave Steinstücken eröffnet wurde. Als Voraussetzung dazu bedurfte es allerdings einer gewichtigen internationalen Vereinbarung, des Viermächteabkommens über Berlin vom 3. September 1971.
     Die Geschichte von Steinstücken geht bis auf das Jahr 1787 zurück, als das Dorf Stolpe ca. 12 ha Land erwarb, auf dem sich 1817 eine Kolonie ansiedelte, die den Namen Steinstücken erhielt und eine Exklave zum Dorfkern darstellte.

Bereits 1898 wurde Stolpe einschließlich dieser Exklave in die Landgemeinde Wannsee übernommen und gelangte somit 1920 bei der Bildung Groß-Berlins zum neu entstandenen Bezirk Zehlendorf. Ebenso ging es anderen bewohnten Exklaven wie Fichtenwiese, Erlengrund, Finkenkrug (alle Bezirk Spandau), aber auch unbewohnten (siehe Tabelle). Sie gehörten verwaltungsmäßig zu Berlin, lagen aber außerhalb des geschlossenen Stadtgebiets.
     Aus dieser eigenartigen lokalen Konstellation ergaben sich bis 1945 auf kommunaler Ebene keinerlei verwaltungsmäßige Probleme. Sie entstanden erst nach Kriegsende mit der Aufteilung Deutschlands und des Großberliner Stadtgebiets in die vier Besatzungszonen und nach der mit den Jahren zunehmenden Ost-West-Konfrontation. Das Steinstücken umgebende Brandenburg gehörte ab 1945 zur sowjetischen Besatzungszone (SBZ), Steinstücken mit seinen 200 Einwohnern als Teil des Bezirks Zehlendorf jedoch zum us-amerikanischen Sektor von Berlin und unterlag somit dem Viermächtestatus der Stadt. Am 18. Oktober 1951 besetzte die Volkspolizei der DDR in Abstimmung mit der sowjetischen Besatzungsmacht widerrechtlich Steinstücken, und die DDR verkündete eiligst die Eingemeindung Steinstückens, unweit der Babelsberger Filmstudios gelegen, in das Stadtgebiet von Potsdam. Damit eroberte - so gesehen - der Ostblock einen Teil des us-amerikanischen Sektors von Berlin.
BlattanfangNächstes Blatt

   117   Im Detail Exklaven  Voriges BlattNächstes Blatt
Die USA protestierten gegen diesen willkürlichen Schritt, und schon vier Tage später erfolgte der Widerruf. Die Volkspolizei zog sich als Reaktion auf den Protest der US-Amerikaner wieder aus der Exklave zurück.
     Ein halbes Jahr später, ab 27. Mai 1952, errichtete die DDR an ihren Grenzen zur Bundesrepublik und den Außengrenzen zu West-Berlin erste Sperranlagen als Protest gegen die geplante Wiederaufrüstung im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG).
     Der freie Übergang von Bürgern nach Ost oder West beschränkte sich fortan nur noch auf die nicht kontrollierte Grenze zwischen den Sektoren innerhalb Berlins. In den folgenden vier Wochen verließen über 16 000 Menschen die DDR in der Annahme, dass bald auch die Grenzen in Berlin geschlossen werden könnten. Auch Steinstücken wurde den lokalen Bedingungen entsprechend mit Kontroll- und Schutzstreifen umgrenzt, so dass ein unkontrollierter Zugang zur Exklave nicht mehr möglich war. Die Straße zwischen Steinstücken und Kohlhasenbrück, dem nächstgelegenen Teil West-Berlins, lag auf dem Territorium der DDR und wurde von nun an unter ständige Kontrolle genommen. Die drei westlichen Hochkommissare erhoben am 29. Mai 1952 gegen alle diese von der Sowjetunion gedeckten Maßnahmen der DDR Protest.
Im Juni 1952 legte die Ostseite von sich aus fest, dass jegliche Besucher nur noch mit einer polizeilichen Anmeldung beim zuständigen Polizeirevier 162 in Wannsee nach Steinstücken gelangen können. Davon war auch jeder Handwerker und jeder Lieferant betroffen, der zu einer Dienstleistung nach Steinstücken gerufen wurde. Diese Regelung führte zur dauerhaften symbolischen Stationierung von drei Soldaten der US-Army in Steinstücken. Jede nachfolgende Besetzung der Exklave durch Volkspolizei oder Sowjetarmee wäre nun durch die westliche Seite als ein direkter Angriff auf die USA gewertet worden. Die Rechte der US-Amerikaner als Schutzmacht für West-Berlin als Ganzes und ihren Sektor im besonderen wurden dadurch nachhaltig demonstriert. Sie behielten ihren unkontrollierten Zugang nach Steinstücken, unabhängig von den Regelungen der DDR. Wer allerdings als Bundesbürger oder Westberliner nach Steinstücken wollte, musste stets Transit über das Gebiet des inzwischen nach Auflösung des Landes Brandenburg entstandenen Bezirks Potsdam nehmen. Die US Air Force hielt ständig einen Hubschrauber für den Luftkontakt in Bereitschaft. Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 erhielt Steinstücken nunmehr eine völlig undurchlässige Umzäunung.
BlattanfangNächstes Blatt

   118   Im Detail Exklaven  Voriges BlattNächstes Blatt
     Für die Steinstückener war es natürlich psychisch belastend, unausgesetzt wie auf einer Insel von einem als feindlich empfundenen Meer umgeben zu sein. Die Hysterie des Kalten Krieges hielt die Bewohner in Atem, die Weltpolitik kam hautnah an sie heran. Jeder wusste, dass Wasser und Strom aus der DDR geliefert wurden und jederzeit entsprechend der politischen Wetterlage unterbrochen werden konnten. Irgendwie mutete die Situation aber auch wie eine Idylle an, denn lästige Besucher und unwillkommene Neugierige gab es nicht, die Kriminalität bewegte sich auf einem Nullpunkt. Es herrschte mehr die Atmosphäre einer aufeinander angewiesenen Trutzgemeinschaft. Man kannte sich und war über parteipolitische Grenzen hinweg gegen die andere politische Macht fest verbunden.
     Wesentlich erleichtert wurde die Lage der Steinstückener, als im August 1972 die eingangs bereits erwähnte Verbindungsstraße übernommen und ausgebaut wurde. Diese Straße existierte schon seit Jahrzehnten und trug seit 1925 den Namen Bernhard-Beyer-Straße, benannt nach einem Grundbesitzer und Schöffen aus Kohlhasenbrück, der sich einst auch Verdienste als stellvertretender Amtsvorsteher von Wannsee erworben hatte. Die politischen Voraussetzungen für die Straßenübernahme schuf das Viermächteabkommen vom 3. September 1971.
Dort wurde festgehalten: »Die Probleme der kleinen Enklaven (aus der Sicht der DDR - B. M.) einschließlich Steinstücken und anderer kleiner Gebiete können durch Gebietsaustausch gelöst werden.« (Anlage III 3) Verhandlungen zwischen dem Senat von West-Berlin und der Regierung der DDR führten am 3. Juni 1972 zu einer Vereinbarung über einen Gebietsaustausch von 15,6 ha für die DDR und 17,1 ha für West-Berlin bei einem Wertausgleich von 4 Millionen DM für die DDR.
     Für die Verbindungsstraße wurde eine Fläche von 2,3 ha in Anschlag gebracht. Die Straße wirkte mit ihrer Breite von 100 m und ihrer Länge von 1 200 m vergleichsweise wie ein schmaler Korridor, wie ein enger Schlauch, der rechts und links von den üblichen Grenzsicherungsanlagen der der DDR umfasst und ständig bewacht war. Für die DDR-Seite verlängerte sich die nach West-Berlin zu bewachende Grenze somit um etwa 2,5 km.
     Nach 20 Jahren war nun wieder ein öffentlicher und nicht von der DDR zu kontrollierender Zugang für jeden Bundesbürger und Westberliner möglich. Die Buslinie 118 erweiterte sich durch die direkte Anbindung Steinstückens an das Westberliner Stadtgebiet. Auch Energie und Wasser bezogen die Bewohner nunmehr aus West-Berlin.
BlattanfangNächstes Blatt

   119   Im Detail Exklaven  Voriges BlattArtikelanfang
Das alles war Grund genug für den Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (*1926) und den us-amerikanischen Stadtkommandanten William W. Cobb, die Bedeutung dieses Ereignisses durch ihre Anwesenheit zu unterstreichen.
     Mit dieser von beiden politischen Seiten getragenen Regelung fiel Steinstücken künftig aus den Schlagzeilen der Medien heraus. 1976 entstand auf dem Hubschrauberlandeplatz
in Steinstücken in Anlehnung an das große Denkmal am Platz der Luftbrücke in Tempelhof ein symbolisches »Luftbrückendenkmal« . Mit der Wiedervereinigung Berlins am 3. Oktober 1990 und der Anerkennung der getroffenen Vereinbarungen durch die neu legitimierte Landesregierung von Brandenburg endete nun endgültig ein besonderes Kapitel der gespaltenen Stadt Berlin.
Exklaven, die zum Stadtgebiet von West-Berlin gehörten:
 
Falkenhagener WieseBezirk Spandau45,44 ha
Wüste MarkBezirk Zehlendorf21,83 ha
Laszins-WiesenBezirk Spandau13,49 ha
SteinstückenBezirk Zehlendorf12,67 ha
Große KuhlakeBezirk Spandau8,03 ha
NuthewiesenBezirk Zehlendorf3,64 ha
FichtenwiesenBezirk Spandau3,51 ha
FinkenkrugBezirk Spandau3,45 ha
ErlengrundBezirk Spandau0,51 ha
BöttcherbergBezirk Zehlendorf0,30 ha
Quelle: Walter Krumholz: Berlin-ABC. Berlin 1968. S. 217
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
www.berlinische-monatsschrift.de