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Horst Wagner
16. April 1871:
Berlin wird Reichshauptstadt

»Berlin wird Weltstadt« hatte der Publizist Robert Springer (1816-1885) seinen 1868 erschienenen Sammelband Berliner Lokal- Feuilletons genannt und dabei auf die gefallene Stadtmauer, Borsigs neue Fabrik vor dem Oranienburger Tor, die Entwicklung des (Pferde-) Omnibusverkehrs und darauf verwiesen, dass aus den Alt- Achtundvierzigern vom Roten Zimmer des Café Steheli inzwischen »nützliche Menschen« geworden seien.
     Wann Berlin wirklich Weltstadt geworden ist und ob man es heute so nennen sollte, darüber mögen sich Historiker und Politiker streiten. Tatsache ist: Drei Jahre nach Springers Weltstadt- Buch ist Berlin erst einmal Reichshauptstadt geworden. Ganz offiziell am Sonntag, dem 16. April 1871. An diesem Tag nämlich setzte der am 18. Januar im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser gekürte preußische König Wilhelm I. »im Namen des deutschen Reiches, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages« die »Verfassungs- Urkunde für das deutsche Reich« in Kraft.

Diese Urkunde, deren Entwurf drei Wochen zuvor, am 24. 3. 1871 in der »Vossischen Zeitung« veröffentlicht worden war und deren 78 Artikel von den 382 Mitgliedern des Reichstages am 14. April nahezu einstimmig angenommen wurden, sprach in ihrer Präambel von einem »ewigen Bund« der deutschen Fürsten, der »den Namen deutsches Reich führen« soll, und bestimmte die Residenzstadt des neuen Kaisers zum Sitz des Bundesrates als der, wie es hieß, »Vertretung der verbündeten Regierungen« und des vom ganzen Volk gewählten Reichstages.
     Letzterer war am 3. März 1871 gewählt worden, wobei die Nationalliberale Partei mit 125 Sitzen die stärkste Fraktion stellte, gefolgt von der kurz zuvor gegründeten katholischen Zentrumspartei mit 61 und der Deutsch- Konservativen Partei mit 57 Sitzen. Am 21. März waren die Abgeordneten zur Reichstagseröffnung vom Kaiser in den Weißen Saal des Schlosses eingeladen oder befohlen worden, wo der mit einem »dreifachen Hoch« begrüßte Wilhelm I. eine Thronrede hielt, in der er sie ermahnte, »zum Schutze des in Deutschland gültigen Rechts und zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes« zu wirken. Nachdem Reichskanzler Bismarck »auf Befehl seiner Majestät« den Reichstag eröffnet hatte, zogen sich die Abgeordneten zur mehrwöchigen Arbeit in das Gebäude des Preußischen Abgeordnetenhauses am Dönhoffplatz zurück.
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Die Hauptstadtfrage wurde dort in den Debatten kaum berührt. Dass diese Rolle der preußischen Residenzstadt zufallen würde, galt als selbstverständlich. Heftig diskutiert wurde dagegen der Vorstoß einiger Zentrums- Abgeordneter, in die neue Reichsverfassung so etwas wie einen Grundrechtskatalog aufzunehmen, was allerdings der Ablehnung verfiel. Bemerkenswert auch, dass es zwei Anträge gab, Kanzler Bismarck »um schleunigste Anordnung der nötigen Schritte betreffs der Freilassung des Abgeordneten Bebel zu ersuchen«.
     Berlin feierte seine neu gewonnene Rolle als Reichshauptstadt oder - wie es damals vorzugsweise hieß - »deutsche Kaiserstadt« auf zweifache Weise: Indem es gleich am nächsten Tag, am 17. April also, sein neues, sein Rotes Rathaus einweihte und in dieses die Abgeordneten des Reichstages zum Festbankett einlud. »Zum ersten Mal dienen diese Prachträume des neuen Rathauses der deutschen Kaiserstadt ihrer festlichen Bestimmung. Und durch keine schönere, keine bedeutungsvollere Feier könnte sie eingeweiht werden ... Die Stadt Berlin empfängt gastlich in ihrem Hause die zum ersten deutschen Parlament in ihr versammelten Vertreter des ganzen deutschen Volkes«, jubelte die »Vossische Zeitung« in ihrem Bericht.
     Die Reichstagsabgeordneten mussten bekanntlich noch etliche Jahre warten, bis sie Ende 1894 ihre neuen Prachträume, den von Wilhelm II. verächtlich als »Reichsaffenhaus« bezeichneten Wallot- Bau, erhielten.
Bereits 1875 unternahm dagegen Berlins liberaler Oberbürgermeister Hobrecht (1824-1912) den Versuch, die Reichshauptstadt auch verwaltungsmäßig aufzuwerten und sie zu diesem Zwecke zusammen mit Charlottenburg und umliegenden Gemeinden zur »Provinz Berlin« zu machen, wobei der Oberbürgermeister zugleich Oberpräsident dieser Provinz sein sollte. Hobrechts Vorstoß scheiterte allerdings sowohl bei den vorgesetzten Stellen, als auch an der Mehrheit der Stadtverordneten, die ein zu großes Gewicht des Oberbürgermeisters fürchteten. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Übernahme der Hauptstadtfunktion, am 1. April 1881, schied Berlin dann erst einmal aus der Provinz Brandenburg aus und wurde ein selbstständiger Stadtkreis, wobei der Oberpräsident der Provinz Brandenburg in Personalunion Oberpräsident von Berlin wurde und die Kommunalaufsicht über den Magistrat erhielt.
     Die eigentliche Macht in der Stadt lag allerdings nach wie vor - entsprechend der Städteordnung von 1822 - bei dem vom Preußischen Innenminister eingesetzten Polizeipräsidenten.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2001
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