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Manfred Rexin
Der 17. Juni 1953

»Volksaufstand« oder »konterrevulutionärer Putsch«?

Was das westliche Deutschland von 1954 bis 1990 an jedem 17. Juni, dem »Tag der deutschen Einheit«, als Volksaufstand gegen ein stalinistisches Regime feierte, galt im Verständnis der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, solange sie die DDR beherrschte, als ein misslungener »konterrevolutionärer Putsch«. Das Institut für Marxismus- Leninismus beim SED- Zentralkomitee verfasste in den siebziger Jahren eine »Geschichte der SED - Abriß« - ein Buch, dem eine Kommission des Politbüros unter dem Vorsitz von Erich Honecker (1912-1994) ausdrücklich seine Zustimmung erteilte. Darin fanden sich einige selbstkritische Eingeständnisse wie diese: Partei und Regierung hätten vor dem 17. Juni 1953 Beschlüsse für ein schnelleres Wachstum der Volkswirtschaft gefasst, die eine »Verschlechterung der Lebenslage« bewirkt und sich als fehlerhaft erwiesen hätten; insbesondere habe eine »administrativ veranlasste Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent« Unverständnis und Unzufriedenheit hervorgerufen.

Dennoch hielt die Partei- und Staatsführung der DDR bis zu ihrem Sturz im Herbst 1989 an einer Deutung des Geschehens fest, die sie schon unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 ausgegeben hatte - nämlich: »feindliche Diversionsversuche« imperialistischer Mächte hätten den »faschistischen Putsch« am lange vorbereiteten »Tag X« ausgelöst.
     In den Köpfen der alt gewordenen Männer des SED- Politbüros war jener Juni- Aufstand eine traumatische Erinnerung geblieben. Aber auch westdeutsche Politiker - von Egon Bahr (geb. 1922) bis zu Franz Josef Strauß (1915-1988) - warnten in den achtziger Jahren vor Spekulationen, ein zweiter 17. Juni würde ein anderes - glücklicheres - Ende finden, als die Ereignisse von 1953.

»Arbeiter-« oder »Volksaufstand«?

Im Westen waren bis Ende der achtziger Jahre Historiker tonangebend,1) die die Arbeiterschaft in Ost-Berlin und in industriellen Ballungsräumen der DDR als den bestimmenden Träger eines revolutionär zu nennenden Prozesses benannten, dem alsbald die militärische Macht der Sowjets ein Ende machte. In den neunziger Jahren ließ der Einblick in die lange verschlossenen DDR- Archive die Einsicht reifen, dass Widerstandsaktionen auch in kleineren Orten und in ländlichen Regionen an der Tagesordnung gewesen waren, ohne dass man im Westen davon Kenntnis erlangt hatte.2)

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Wie auch immer ein wertendes Gesamturteil lauten mag - was am Morgen des 16. Juni 1953 auf drei Baustellen der Ostberliner Stalinallee begann und sich binnen 36 Stunden auf zahlreiche Städte, Orte und Industrieregionen der DDR ausweitete, war der erste große Aufstand gegen ein sich zum Marxismus- Leninismus bekennendes Herrschaftssystem seit der Rebellion russischer Matrosen in Kronstadt 1921. Während der 32 Jahre zwischen »Kronstadt« und den Juni- Ereignissen in der DDR hatte der Sowjetstaat eine totalitäre Machtstruktur entfaltet, die gegen jegliches Aufbegehren größerer Bevölkerungsschichten und -gruppen gewappnet zu sein schien. Westliche Politiker und Publizisten - der herrschenden Totalitarismus- Theorie folgend - äußerten zunächst die Vermutung, am 16. Juni 1953 habe die SED- Führung zur Unterstützung ihres »Neuen Kurses« eine Demonstration von Bauarbeitern veranlasst, die dann alsbald ihrer Kontrolle entglitten sei.
     Im Jahre 1948 hatte sich die SED - anders als in ihrer Gründungsphase - dazu bekannt, als leninistische »Partei neuen Typus« das Vorbild der KPdSU (B) fast sklavisch nachzuahmen.

In seiner Ausgabe vom 17. Juni 1953 berichtete der Westberliner »Telegraf« bereits umfassend über die Demonstrationen am Vortag
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Im Juli 1952 kündigte sie auf ihrer II. Parteikonferenz an, die »Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus in der DDR« zu schaffen. So sollten sich Bauern und Handwerker in Produktionsgenossenschaften zusammenschließen. Um den Einfluss mittelständischer Schichten weiter einzuengen, bedienten sich die DDR- Behörden des Wirtschaftsstrafrechts und einer scharfen Besteuerung. Die Kirchen, vor allem die Jungen Gemeinden der protestantischen Jugend, wurden hart bedrängt. Die Parteiführung gab dem Ausbau einer eigenen Schwerindustrie eindeutigen Vorrang vor den Konsumwünschen der DDR- Bürger. Versorgungsmängel verschärften sich. Gegen Ende des Jahres 1952 und vor allem in den ersten Monaten 1953 waren die Anzeichen einer schweren Wirtschaftskrise unübersehbar. Die Zahl der DDR- Bürger, die in den Westen flohen, stieg dramatisch an: 72 000 Flüchtlinge in der ersten Jahreshälfte 1952, 110 000 in der zweiten Jahreshälfte, aber bereits 225 000 in den ersten sechs Monaten 1953.
     Am 5. März 1953 starb Stalin, der sowjetische Diktator, dessen Wille auch in der DDR oberstes Gesetz geworden war. In Moskau leitete eine neue kollektive Partei- und Staatsführung behutsam einen »Neuen Kurs« ein - im Innern, aber auch außenpolitisch. Die DDR- Führung verschloss sich jedoch der Einsicht,
dass auch im östlichen Deutschland ein Kurswechsel geboten war - glaubhaft vor allem für die überanstrengten und überforderten Arbeiter in den großen Industriebetrieben. Indem sie deren Interessen gröblich vernachlässigten, lösten die Herrschenden - Walter Ulbricht (1893-1973) an der Spitze - das Aufbegehren aus. Sie verlangten eine Erhöhung der Arbeitsnormen in allen volkseigenen Betrieben: mindestens zehn Prozent mehr Leistung bei unverändertem Lohn. So verfügte es der DDR- Ministerrat auf Weisung der Parteiführung am 28. Mai 1953. Zwar wäre mancherorts eine Steigerung der Arbeitsnormen möglich gewesen, doch in vielen Betrieben mussten die Arbeiter mit einer Minderung ihrer ohnehin knapp bemessenen Einkommen rechnen.

Eingeständnis, aber keine Änderung

Zu dieser Zeit nun entschloss sich die Moskauer Partei- und Staatsspitze, ihre deutschen Verbündeten und Gefolgsleute vor einer Fortsetzung des harten stalinistischen Kurses in der DDR zu warnen. Wladimir Semjonow (1911-1992), neuer sowjetischer Hochkommissar, machte Walter Ulbricht und dem SED- Politbüro klar, dass die Führung der Einheitspartei den Bogen überspannt hatte, dass sie Fehler eingestehen und einen neuen Kurs steuern musste.

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In einem am 9. Juni 1953 beschlossenen, zwei Tage später veröffentlichten Kommunique des SED- Politbüros fand sich das Eingeständnis an Bauern, Bürger, Intelligenz, dass die Interessen von Einzelbauern, Einzelhändlern, Handwerkern und auch der Intelligenz vernachlässigt worden seien, dass geflüchteten Bauern die Rückkehr auf ihre Höfe gestattet werden müsse, dass die wegen ihres christlichen Glaubens von Schulen und Universitäten vertriebenen jungen Bürger wieder zu ihrem Recht kommen sollten. Doch mit keinem Wort ging das SED- Politbüro in seinem Kommunique vom 9. Juni auf den Ende Mai verkündeten Beschluss über die Normenerhöhung ein, obwohl Ärger und Unruhe unter den Industriearbeitern der DDR längst nicht mehr zu überhören waren.
     Am Morgen des 16. Juni 1953 - es war ein Dienstag - erschien im FDGB- Organ »Tribüne« ein Artikel aus der Feder eines Gewerkschaftsfunktionärs, der noch einmal unmissverständlich klarstellte, dass die SED an dem Verlangen nach mindestens zehnprozentiger Normenerhöhung festhielt. Ausgerechnet das Gewerkschaftsblatt setzte sich so in nachgerade barschem Ton über alle Bedenken der Gewerkschaftsbasis hinweg, und das ließ das längst gefüllte Fass des Unmuts überlaufen. Bauarbeiter in der damals nach J. W. Stalin (1879-1953) benannten Frankfurter Allee legten die Arbeit nieder und bildeten einen Demonstrationszug, der sich auf den Weg in die Innenstadt machte - zuerst zur Gewerkschaftszentrale in der Wallstraße, dann zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße, nicht weit von der Sektorengrenze am Potsdamer Platz entfernt.
Während dieses Marsches wuchs der Zug der Demonstranten zu einer zehntausendköpfigen Menge an. Aus sozial- und lohnpolitischen Forderungen der Streikenden wurde mehr und mehr das Verlangen nach Umformung der Regierung, nach freien Wahlen und Wiedervereinigung Deutschlands.3) Die Rücknahme des Normen- Beschlusses am Nachmittag des 16. Juni 1953 konnte daran nichts mehr ändern.

Westliche Politiker überrascht

West-Berlins Politiker erfuhren wie Presse und Rundfunk zu dieser Stunde von den Ereignissen im Ostsektor, dessen Telefonverbindungen mit dem Westen seit über einem Jahr unterbrochen waren. Da niemand im Westen mit einer solchen Eruption des Unmuts gerechnet hatte, befanden sich wichtige Funktionsträger nicht in der Stadt. Der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter (1889-1953) nahm beispielsweise an einem Internationalen Städtetag in Wien teil. Es gelang ihm nicht, eilig nach Berlin zurückzureisen - amerikanische Dienststellen lehnten sein Begehren ab, ihm ein Flugzeug zu stellen. Verreist waren auch sein Stellvertreter im Senat, Walther Schreiber (1884-1958) , und der SPD- Landesvorsitzende Franz Neumann (1904-1974), ebenso dessen Stellvertreter Josef Braun. Andere führende Politiker wie CDU- Bundesminister Jakob Kaiser (1888-1961) nahmen an Etatberatungen im Bonner Bundestag teil und konnten erst am Abend des 17. Juni nach Berlin zurückfliegen.

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Der Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) verbreitete und kommentierte am Nachmittag und Abend des 16. Juni die wichtigsten Forderungen der Streikenden:
-Auszahlung der Löhne nach den alten Normen, also Beseitigung der administrativ verfügten Normenerhöhung,
-sofortige Senkung der Lebenskosten,
-freie und geheime Wahlen,
-keine Maßregelungen der Streikenden und ihrer Sprecher.

Die weiter gehende Parole »Generalstreik in der DDR« erwähnte der Sender auf Weisung des US- Hochkommissariats in Bonn- Mehlem nicht, denn die drei Westalliierten waren besorgt, es könnte sonst zu sowjetischen Übergriffen auf Westberliner Territorium kommen. Nach Angaben des damaligen RIAS- Chefredakteurs Egon Bahr richtete US- Hochkommissar James B. Conant (1893-1978) an die Leitung des Senders die warnende Anfrage, ob sie »vielleicht den dritten Weltkrieg beginnen« wolle. Ostberliner Demonstranten hatten die Parole ausgegeben, Protestaktionen am folgenden Morgen mit einer Versammlung auf dem Strausberger Platz fortzusetzen. RIAS strahlte während der Nacht und am frühen Morgen des 17. Juni mehrmals einen Aufruf des Westberliner DGB- Vorsitzenden Ernst Scharnowski (1896-1985) an die Arbeiterschaft aus, sich ihre »Strausberger Plätze überall in der Zone« zu schaffen.

»Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für Euch mit gutem Erfolg verlaufen.« Eine Ansprache des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, wirkte dagegen eher dämpfend. Er richtete »an jeden Ost-Berliner und an jeden Bewohner der Sowjetzone die Mahnung, sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachte Handlungen hinreißen zu lassen ... Die grundlegende Änderung Eures Daseins kann und wird nur durch die Wiederherstellung der deutschen Einheit und Freiheit erreicht werden.«4)

RIAS informierte umfassend

Immerhin verbreiteten RIAS Berlin, die Sender des Nordwestdeutschen Rundfunks und Stationen in den süddeutschen Bundesländern die Kunde vom dramatischen Ostberliner Geschehen überall in der DDR - so sprang der Funke über. Von dem Geschehen des 16. Juni hätten DDR- Bürger außerhalb Berlins in den 14 Bezirken auch durch Reisende und durch Telefongespräche erfahren, aber nicht so umfassend, schnell und eindringlich wie durch westliche Rundfunkanstalten, namentlich durch den RIAS, der in breiten Schichten der Bevölkerung als glaubwürdig galt - im Verständnis der Parteiführung der gefährlichste »Feindsender«, für den die Berichterstattung zu einer schwierigen Gratwanderung wurde:

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Der Sender hatte über einen sich ausbreitenden Flächenbrand zu berichten, war aber gehalten, kein Öl ins Feuer zu gießen.
     Vielerorts in Großstädten und industriellen Ballungsräumen der DDR traten am Morgen des 17. Juni 1953 Belegschaften in den Streik. Demonstranten rissen Plakate und Parolen der SED von den Wänden, besetzten Parteibüros und Rathäuser, öffneten Gefängniszellen. Soziale und politische Ziele der am Protest beteiligten Arbeiter sind in Bitterfeld von einer überbetrieblichen Streikleitung in neun Punkten zusammengefasst worden:
-Rücktritt der nicht durch demokratische Wahlen legitimierten Regierung,
-Bildung einer neuen »provisorischen Regierung aus fortschrittlichen Werktätigen«,
-Zulassung aller demokratischen Parteien wie in Westdeutschland
-freie, geheime, direkte Wahlen in vier Monaten
-Freilassung der politischen Gefangenen,
-Öffnung der Zonengrenzen,
-»sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards«,
-Auflösung der Armee,
-Verzicht auf Repressalien gegen Streikende.

Erklärung zum Ausnahmezustand im sowjetischen Sektor von Berlin durch dem Militärkommandanten, Generalmajor Dibrowa

Die Sowjets greifen ein

Für die internationale Öffentlichkeit war es besonders eindrucksvoll, wie am Morgen des 17. Juni - bei zuweilen strömendem Regen - ein langer Zug von Arbeitern des auf DDR- Gebiet gelegenen Stahlwerkes Hennigsdorf quer durch den französischen Sektor ins Ostberliner Stadtzentrum strebte.

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Sie erreichten es gegen Mittag, als die Sowjets sich anschickten, ihre Truppen und Panzer in Marsch zu setzen. Die Polizei der DDR, auch die Kasernierte Volkspolizei, eine militärähnliche Formation, war weder fähig noch gewillt, den Aufstand gewaltsam niederzuwerfen. Um das Regime Walter Ulbrichts zu retten, verhängten die Sowjets kurz nach 13 Uhr über Ost-Berlin den Ausnahmezustand, der erst am 11. Juli um 24 Uhr aufgehoben wurde. Auch in zahlreichen anderen Orten erzwang das Kriegsrecht ein Ende der öffentlichen Proteste. Doch in vielen Betrieben dauerten Streiks an - bis in die erste Juli- Hälfte hinein. Der Ausnahmezustand galt in 167 von damals 217 Stadt- und Landkreisen der DDR. Wie viele DDR- Bürger verletzt oder getötet wurden, ist bis heute nicht eindeutig zu beziffern. Ein Blutbad - wie drei Jahre später, 1956, in Budapest - suchten die Sowjets zu vermeiden. In mindestens 18 Fällen aber verfügten sowjetische Militärtribunale standrechtliche Erschießungen. Ein Bericht, den der sowjetische Hohe Kommissar Anfang Oktober nach Moskau sandte, bezifferte die Zahl der am 17. Juni und danach festgenommenen Teilnehmer an Streiks und Demonstrationen mit 7 663; DDR- Gerichte verurteilten 1 240 von ihnen zu Freiheitsstrafen. Darunter waren den sowjetischen Angaben zufolge 1 090 Arbeiter, aus West-Berlin stammten 23 Verurteilte, und - eine weitere nicht unwichtige Angabe - 138 waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges »Parteigenossen«, Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen gewesen. Aus einem Vergleich mit dem Anteil ehemaliger PGs an der SED- Mitgliedschaft im Winter 1953/54 hat Falco Werkentin nach der Öffnung der Archive den Schluss gezogen: »Unter den Parteigängern der SED gab es weitaus mehr ehemalige Nazis als unter jenen, die sich am 17. Juni dem Aufstand angeschlossen hatten.«5)

»Neuer Kurs« wird proklamiert

Um die Legende vom »faschistischen Putsch« zu pflegen, gaben die Propagandisten der SED dem Fall einer als SS- Kommandeuse des KZ Ravensbrück bezeichneten Frau namens Erna Dorn großes Gewicht. Sie war im Mai 1953 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und am 17. Juni mit anderen Gefangenen aus der U- Haftanstalt Halle für kurze Zeit befreit worden. Wenige Tage später erging gegen sie als vermeintliche Rädelsführerin des Putsches ein Todesurteil.
     Verglichen mit der Härte stalinistischer Strafjustiz in der vorhergehenden Phase erschien die justitielle Praxis im Sinne des »Neuen Kurses« zunächst vorsichtiger. Aber als DDR- Justizminister Max Fechner (1892-1973), ein ehemaliger Sozialdemokrat, der sich der SED angeschlossen hatte, nach dem 17. Juni an das in der DDR- Verfassung verbürgte Streikrecht erinnerte, wurde er nicht nur seiner Partei- und Staatsämter enthoben, sondern 1955 sogar zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Auf Max Fechner folgte an der Spitze des Justizministeriums Hilde Benjamin (1902-1989). Zehntausende entgingen ihrer Festnahme durch die Flucht in den Westen.

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Die SED- Führung widerrief den Neuen Kurs nicht - noch nicht. Mitglieder des Politbüros traten mit selbstkritischer Geste vor die Belegschaftsversammlungen großer Betriebe. Agitatoren der Partei gaben sich zerknirscht. Wer jedoch - wie der Chefredakteur des »Neuen Deutschlands«, Rudolf Herrnstadt (1903-1966), und der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser (1893-1958) - einen Wechsel an der Spitze der Partei anstrebte, verlor Rang und Einfluss.6)
     Die Sowjets hatten noch im Mai 1953 erwogen, sich des Stalinisten Walter Ulbricht zu entledigen und ihn durch einen glaubwürdigeren Generalsekretär zu ersetzen. Unter dem Eindruck des Juni- Aufstandes sah die Führung der KPdSU (B) in ihm und seinen Gefolgsleuten noch am ehesten eine Gewähr für die Stabilisierung der Lage in der DDR zu ihren Gunsten. Ulbricht blieb Parteichef und wurde sieben Jahre später nach dem Ableben von Wilhelm Pieck (1876-1960) als Vorsitzender des Staatsrats sogar formelles Staatsoberhaupt der DDR bis zu seinem Tode im Jahre 1973.
     Einige Lehren zogen er und seine Partei immerhin aus den Ereignissen: Fortan hüteten sie sich vor rigorosen Eingriffen in das Lohn- und Preisgefüge der DDR. Im Umgang mit den Arbeitern verfuhr die Partei behutsamer. Zugleich machte sie sich daran, ihren Repressionsapparat, das Staatssekretariat (bald wieder Ministerium) für Staatssicherheit und die Polizei aus- und Kampfgruppen aufzubauen, um jedes neue Aufbegehren frühzeitig erkennen und unterdrücken zu können. Und das ist ihr dann ja auch 36 Jahre lang gelungen!
Anmerkungen:
1 Arnulf Baring, Der 17. Juni 1953, Köln/ Berlin 1965; Ilse Spittmann und Karl Wilhelm Fricke (Hg.), 17. Juni 1953 - Arbeiteraufstand in der DDR, Köln 1982
2 Ilko-Sascha Kowalczuk, Armin Mitter und Stefan Wolle (Hg.), Der Tag X - 17. Juni 1953. Die »Innere Staatsgründung« der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995
3 Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, hg. von der IG Bau-Steine- Erden, Frankfurt/ Main 1993
4 Manfred Rexin, Der 16. und 17. Juni 1953 in West-Berlin, in: DeutschlandArchiv, Heft 8/1993
5 Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 159 und S. 198
6 Helmut Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin 1991; Rudolf Herrnstadt, Das Herrnstadt- Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, hg. von Nadja Stulz-Herrnstadt, Reinbek bei Hamburg 1990
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
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