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Gernot Jochheim
»Gebt uns unsere Männer wieder!«

Berliner Frauen gegen Goebbels

Im Herzen der Reichshauptstadt, in der Rosenstraße (Berlin- Mitte), nur 100 Meter von der St. Marienkirche entfernt, protestierten in der ersten Märzwoche 1943 tage- und nächtelang viele hundert Menschen - überwiegend Frauen - gegen eine Deportation ihrer jüdischen Ehepartner, Kinder und Verlobten, die dort, nämlich im Gebäude der ehemaligen SozialVerwaltung der jüdischen Gemeinde (Rosenstraße 2-4), gefangengehalten wurden. Kein Einschüchterungsversuch von seiten der Gestapo oder der SS - auch nicht die Drohung, mit Maschinengewehren in die Menge zu schießen - vermochte den Protest zu unterbinden.
     Dieses Geschehen, das infolge der so genannten »Fabrik- Aktion«, der von den Nazis so geplanten »Schlussaktion gegen die Juden«, am 27./28. Februar 1943 begann, endete nach einer Woche, am 6. März 1943, als die ersten Gefangenen entlassen wurden. Die Entlassung der schätzungsweise 1 500 bis 2 000 gefangenen Männer, Frauen und Jugendlichen währte mindestens 10 Tage und wurde mit der bei den Nazis typischen Akribie durchgeführt.

Die Freigelassenen mussten bis zum Ende der Nazi- Herrschaft Zwangsarbeiten leisten.
     Eine weitere, wenn auch begrenztere und von weniger Menschen getragene Protestaktion hat sich vor einem anderen Gefangenenlager, vor dem ehemaligen jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 - unweit der Rosenstraße - abgespielt.
     Die Ereignisse in der Rosenstraße wie die in der Großen Hamburger Straße vom März 1943 waren einer breiteren Öffentlichkeit bislang unbekannt geblieben, obwohl es eine Reihe von Berichten darüber gegeben hat. In unserer Gegenwart können noch rund zwei Dutzend Zeitzeugen aus eigenem Erleben darüber erzählen - Frauen und Männer, die zum Teil als Jugendliche in dem Gebäude gefangengehalten wurden, und Frauen, die vor dem Gebäude protestiert haben, sowie Frauen und Männer, die damals als Kinder zu dem Protest von Erwachsenen mitgenommen worden waren. Und nicht einmal selten finden wir in der autobiographischen Literatur vom Leben und Überleben in der Nazidiktatur - naheliegenderweise überwiegend in derjenigen, die Jüdinnen und Juden sowie Menschen mit jüdischer Herkunft geschrieben haben - jenes Geschehen erwähnt, manchmal sogar ausgeführt.1)
     Als ein Beispiel sollen Passagen aus dem autobiographischen Bericht »Jahre auf Abruf« von Walter Laqueur wiedergegeben werden. In Laqueurs Darstellung wird leider nicht deutlich, woher er all jene Informationen hat, die er nicht aufgrund eigener Beobachtungen hat gewinnen können.
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Der Autor, das Kind jüdischer Eltern, selbst aber, wie er mehrmals erwähnt, wenig religiös orientiert, war ein in Berlin bekannter und angesehener Arzt. Er lebte in einer so genannten »privilegierten Mischehe«. Auch ihm war es nicht mehr gestattet, seinen Beruf auszuüben; ärztliche Betreuung bei Deportationen jedoch - in den Lagern, auf den Bahnhöfen - durfte er leisten. So war er auch nach der »FabrikAktion« auf dem Weg zur Großen Hamburger Straße. Laqueur berichtet unter anderem:
     »Als ich weiterging, wurde ich plötzlich Zeuge einer Szene, wie ich sie in Deutschland viele Jahre nicht mehr erlebt hatte: einer spontanen Demonstration, es kam mitten im Krieg in Deutschland zu einer kleinen Rebellion. Die nichtjüdischen Ehefrauen und Kinder der Verhafteten2) fanden schnell heraus, worum es ging, und begannen, sich vor dem Sammellager in der Rosenstraße aufzustellen. Am ersten Morgen war es nur ein Dutzend. Sie verlangten, mit ihren Männern sprechen zu dürfen. Ihr Verlangen wurde nicht erfüllt, aber sie blieben. Gegen Abend kampierten einige hundert vor dem Tor und riefen: >Wir wollen unsere Männer wiedersehen< und >Gebt uns unsere Väter frei!< Am nächsten Tag wuchs die Zahl auf etwa tausend an, und sie wurden zu einem beträchtlichen Ärgernis, da sie Delegationen zum nahegelegenen Polizeirevier und sogar ins Hauptquartier der Gestapo schickten.
     Die Behörden waren erstaunlich zuvorkommend, sogar höflich.
Es sei kein Grund zur Aufregung, hieß es, noch sei nichts entschieden; man werde die Sache noch einmal überprüfen. Aber die Ehefrauen gaben sich mit solch unverbindlichem Geschwätz nicht zufrieden: Was sollte denn überprüft werden? Sie wollten ihre Männer auf der Stelle wiederhaben …
     Als die Beamten sagten, die Leute könnten noch nicht freigelassen werden, schlugen die Frauen vor, sie wollten bei ihren Männern im Gefängnis bleiben. Man gab ihnen zur Antwort, das sei nicht zulässig, da die Männer sich im Arrest befänden. Die Frauen entgegneten, die Rosenstraße sei kein Gefängnis, und sie hätten das Recht, das Gebäude zu betreten. Der Führer werde ganz gewiss ein solch gesetzeswidriges Vorgehen nicht billigen ... Die Beamten wussten nicht, was sie darauf antworten sollten, und wandten sich an ihre Vorgesetzten um neue Instruktionen. Durch ganz Berlin verbreitete sich das Gerücht, mitten im Stadtzentrum gebe es eine Demonstration, die Leute widersetzten sich den Behörden. Einige ausländische Korrespondenten - Schweden und Schweizer - tauchten schon in der Nachbarschaft auf, natürlich ganz unauffällig, sie kamen nur zufällig vorbei. Es waren auch ein paar Polizisten da, aber sie versuchten nicht aufzufallen. Von Zeit zu Zeit fuhr eine Limousine mit herabgelassenen Gardinen zum Sammelpunkt. Irgendein hoher Amtswalter kam zur Beratung oder erteilte neue Instruktionen.
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Ein Teil der Menge zog weiter in eine andere kleine Straße, die Burgstraße. Sie kam vor einem der ersten Häuser zum Stehen, einem unauffälligen Bürogebäude ohne Namensschild und Firmenzeichen an der Fassade und auch ohne Leuchtreklame - es war das Bezirkshauptquartier der Gestapo. Ich hatte in meinem Leben schon manche Menschenansammlung beobachtet und wusste, daß eine jede anders ist ... Die Menge heute morgen war diszipliniert, wollte aber offensichtlich ihr Recht durchsetzen. Es war eine Menge, die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestand, und sie wussten, was sie wollten. Sie riefen im Chor: >Gebt uns unsere Männer heraus.< Es war eine erstaunliche Szene - eine Szene ohne vorausgegangene Proben.
     Arme Frauen, dachte ich, wie lange würden sie sich hier halten können, wenn erst die Polizei oder die SS auftauchte? Die Frauen waren verzweifelt, sie hatten nichts zu verlieren, und wenn es ein Massaker deutscher Frauen3) mitten in Berlin und mitten im Krieg gegeben hätte, was dann? Man hätte es nicht lange geheimhalten können, und welchen Eindruck hätte es auf die Soldaten gemacht, die auf den eisigen Feldern Russlands kämpften? Vielleicht hatten sie doch eine Chance. Aber ich konnte nicht länger bleiben. Ich wurde in der Hamburger Straße erwartet.«
4)
     Mit dem »Hauptquartier der Gestapo«, wie es Laqueur nennt, ist die Gestapo- Leitstelle Berlin in der Burgstraße 28 gemeint, wo sich u. a. das Berliner Judenreferat befand.
Dieses Haus lag etwa 200 Meter von dem Ort des Protestes entfernt.

Chronologische Skizze der Ereignisse

Nach den Kriterien akademischer historischer Forschung ist die Quellenlage denkbar schlecht. Irgendwelche Gestapo- Akten beispielsweise, die Auskunft über die Wahrnehmung der Protestaktion durch die Nazis oder über die Diskussions- und Entscheidungsprozesse geben könnten, scheinen nicht mehr zu existieren. Wir sind heute praktisch einzig auf die Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen angewiesen, die von den Ereignissen betroffen waren. Danach hat sich seit dem 27. Februar 1943 etwa folgendes mitten in der Hauptstadt des Nazi- Reiches, wo Goebbels und Himmler unumschränkt zu herrschen schienen, ereignet:

27. Februar 1943
Ein sonniger Spätwintertag. Kaum noch Frost. Vormittags fahren offene Lastwagen durch Berlin. Vollgepfercht mit Männern, Frauen, Jugendlichen. An einem gelben Stern auf der Kleidung unschwer als Juden zu erkennen. Angst und Kälte bestimmen an diesem Sonnabend ihre Haltung. Zu Tausenden sind an diesem Morgen die überwiegend in der Rüstungsindustrie tätigen jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter - Jugendliche vom 14. Lebensjahr an - an ihren Arbeitsstätten gefangengenommen worden.

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Daher heißt diese brutale Razzia später »Fabrik- Aktion«. Am frühen Nachmittag halten Lastwagen mit Gefangenen vor dem Gebäude Rosenstraße 2-4, Ecke Heidereutergasse. Hier steht auf einem Hofgrundstück noch die älteste Synagoge Berlins. Davor das Gebäude der ehemaligen Sozial- Verwaltung der jüdischen Gemeinde. Ein dreistöckiger Bau mit ausgebautem Dachgeschoss. Jetzt von der SS als »Hilfslager« eingerichtet. Schon sind einige hundert Gefangene im Gebäude.
     Am späten Nachmittag ein unverhofftes Bild: eine größere Menschenansammlung vor dem Haus. Fast nur Frauen, die die Aufforderungen von Polizisten, sich zu entfernen, nicht beachten. In dem Gebäude sollen die, wie es im Nazi- Jargon heißt, »arisch- versippten« Juden gefangengehalten werden. Also ihre jüdischen Männer und ihre jüdischen Kinder, soweit sie zwangsarbeiten mussten. Offenbar ist das auch so. Unter Vorwänden fragen sie die Wachen nach ihren Ehemännern und Kindern. Und einige erlangen schon bald Gewissheit: Der Mann, die Tochter, der Sohn befinden sich tatsächlich in dem Gebäude. Mehr und mehr Angehörige kommen. Informiert durch den »Mundfunk«. Man trifft Bekannte oder Freunde. An diesem Abend mögen es 200 sein.
28. Februar 1943
SS und Gestapo jagen die letzten in Berlin lebenden Juden, Straßen- und Häuserrazzien setzen ein. Wer einen nichtjüdischen Ehepartner hat, wer ein nichtjüdisches Elternteil hat, also nach der Rassenlehre der Nazis »Mischling 1. Grades« oder »Geltungsjude« ist, wird zur Rosenstraße transportiert. Vereinzelt auch in das Gebäude des ehemaligen jüdischen Altersheimes in der Großen Hamburger Straße 26, das schon Anfang 1942 als Deportationslager eingerichtet worden ist.
     In dem Maße, in dem sich das Gebäude Rosenstraße 2-4 füllt, wächst auch die Menge vor dem Gebäude an. Einige Frauen haben ihre kleinen Kinder mitgebracht. Viele haben Päckchen dabei. Mit Lebensmitteln und warmer Kleidung. Die reichen sie in das Gebäude. Ihre Männer und Kinder dürfen sich an den Fenstern nicht blicken lassen.
     Erste Rufe sind zu vernehmen. Voller Verzweiflung: »Gebt uns unsere Männer wieder!« - »Gebt unsere Kinder raus!« Hunderte von Menschen stehen nun vor dem Gebäude. Für die Straßenbahn kann nur mühsam eine Gasse freigehalten werden.

1. März 1943
Des Nachts hatte die Zahl der Wartenden vor dem Gebäude abgenommen. Viele müssen wieder zur Arbeit. Sie müssten es zumindest.

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Am späten Nachmittag sind wieder viele hundert versammelt. Die nichtjüdischen Ehefrauen und Mütter der Gefangenen. Welchen Diskriminierungen sind sie nun schon seit Jahren ausgesetzt! Der Mann, die Kinder: sogenannte »Sternträger«. Der Druck, die Angebote der Gestapo, sich scheiden zu lassen. Aber was haben die Nazis jetzt im Sinn? Zwangsscheidungen? Deportation? Zwangssterilisierungen?
     Eine Gruppe Frauen begibt sich wiederholt zur Burgstraße 28. Nur 200 Meter entfernt. Gestapo- Leitstelle Berlin. »Judenreferat«. Deutliche Ratlosigkeit angesichts solcher Zivilcourage. Es müsse alles geprüft werden, versucht man dort zu beschwichtigen. Was genau zu prüfen wäre, bleibt allerdings unklar. Und noch immer werden Gefangene in das Gebäude Rosenstraße 2-4 gebracht.

In der Nacht zum 2. März 1943
Berlin erlebt den bis dahin schwersten Luftangriff. 250 Bomber der Royal Air Force erreichen nach einem Flug über 1 000 Kilometer die Reichshauptstadt und werfen ungeheuerliche Mengen Spreng- und Brandbomben ab. Schwerpunkte des Angriffs: Charlottenburg, Wilmersdorf. Aber auch die St. Hedwigs- Kathedrale, nur einige hundert Meter von der Rosenstraße entfernt, sinkt in Schutt und Asche.


Figur »Der Fliehende« in dem von Ingeborg Hunzinger geschaffenen Denkmal zu den Ereignissen in der Rosenstraße während der ersten Märzwoche 1943
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2. März 1943
An diesem Morgen kommen viele der Frauen oder andere Familienangehörige zunächst einmal zur Rosenstraße, bevor sie zur Arbeit gehen. Erleichterung. Das Gebäude ist unbeschädigt.
     Die Zahl der Menschen vor dem Gebäude bleibt nicht konstant. Sie kommen, verweilen, gehen, kommen erneut. Immer wieder das Rufen: »Gebt uns unsere Männer wieder!«
     Wie erzählt wird, gibt es auch in der Großen Hamburger Straße eine Protestaktion von Frauen jüdischer Männer, die dort gefangen sind.

3. März 1943
Neue Nachrichten, welche die Ängste schüren: Vom Bahnhof Putlitzstraße sind an den vergangenen beiden Tagen wieder Deportationszüge abgefahren. Jeder Transport mit mehr als 1 700 Gefangenen. Männer, Frauen, Kinder. In Viehwaggons.
     Unter den Protestierenden in der Rosenstraße sind nun auch in größerer Zahl Männer. Sogar in Wehrmachtsuniformen. Die Anspannung nimmt spürbar zu. Keiner aber verliert die Nerven. Ein Protest ohne jede Gewalt. Wie lange werden sich die Nazis das noch bieten lassen?

4. März 1943
Die SS baut hinter Sandsäcken zwei Maschinengewehre auf. Eine ungeheure Erregung erfasst die Menschen. Eine Aufforderung: »Straße frei! Oder es wird geschossen!«

Ein Teil der Versammelten drängt erschrocken und angstvoll zur Straße an der Spandauer Brücke, ein anderer Teil aber gerade in die Richtung des Gebäudes. Direkt auf die Maschinengewehre zu. Die Rufe gelten nun den SS- Männern: »Ihr Mörder!« - »Auf Frauen schießen - Ihr Feiglinge!« Im Mute der Verzweiflung: »Ihr Mörder!« Ohrenbetäubendes Schreien, Kreischen. Die Maschinengewehre werden wieder abgebaut. Stille, Weinen, Schluchzen.
     Aus den Seitenstraßen kommen jene zurück, die geflohen oder abgedrängt worden waren. Und dann sind sie wieder zu hören, die fordernden Rufe: »Gebt uns unsere Männer wieder!«

5. März 1943
Wieder wächst im Laufe des Tages die Zahl der protestierenden Angehörigen vor dem Gefängnis in der Rosenstraße auf Hunderte an! Es gibt alle möglichen Gerüchte. Eines aber ist gewiss: An jedem der vergangenen Tage haben Deportationszüge die Stadt verlassen. Mit Tausenden von jüdischen Berlinern.
     Und auch an diesem Tag bringt ein Lastwagen Gefangene zur Rosenstraße. Erwachsene und Kinder. Ein weiteres Gerücht: Eine größere Zahl Männer soll durch die Heidereutergasse abtransportiert worden sein.

6. März 1943
Am Morgen verlassen Gefangene das Gebäude. Sie schwenken einen Entlassungsschein. Jubel kommt auf, als die Wartenden begreifen, was geschieht.

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Aber auch neue Unsicherheit: Einzelfälle? Oder werden alle freigelassen? Doch immer wieder öffnet sich die Tür des Gebäudes, einzeln oder in kleinen Gruppen kommen sie heraus.
     An diesem Tag konnten die Angehörigen noch nicht wissen, daß tatsächlich alle Gefangenen die Freiheit erlangen würden. Goebbels persönlich hatte den Befehl dazu gegeben, wie sein Tagebucheintrag vom 6. März 1943 zeigt:
     Schacht5) hält mir einen langen Vortrag über die augenblickliche Lage in Berlin aufgrund des letzten Luftangriffs. Sie ist doch außerordentlich ernst. Die in der Reichshauptstadt angerichteten Schäden sind sehr bedeutend, und wir werden schätzungsweise sechs bis acht Monate nötig haben, um sie halbwegs wieder in Ordnung zu bringen.
     Gerade in diesem Augenblick hält es der SD (Sicherheitsdienst der Gestapo - G. J.) für günstig, in der Judenevakuierung fortzufahren. Es haben sich da leider etwas unliebsame Szenen vor einem jüdischen Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden etwas Partei ergriff. Ich gebe dem SD den Auftrag, die Judenevakuierung nicht ausgerechnet in einer so kritischen Zeit fortzusetzen. Wir wollen uns das lieber noch einige Wochen aufsparen; dann können wir es um so gründlicher durchführen.
Offensichtlich also wollten die Nazis die Stimmung in der Berliner Bevölkerung, die nach der Niederlage von Stalingrad, nach der Proklamation des »Totalen Krieges« und nach dem schweren Luftangriff auf die Stadt spürbar gesunken war, nicht weiter belasten. Und Proteste auf offener Straße - das war das letzte, was die Nazis gebrauchen konnten.
     Die Geduld der Gefangenen und ihrer Angehörigen wurde noch auf eine harte Probe gestellt. Über zehn Tage zogen sich die Entlassungen der 1 500 bis 2 000 Gefangenen hin. Auf 25 Männer jedoch warteten deren Frauen vorerst vergeblich. Sie waren tatsächlich in eines der Arbeitslager bei Auschwitz deportiert worden - wurden jedoch nach den energischen Protesten ihrer Frauen bei der Gestapo von dort wieder zurückgeholt. Auch dieses war eines jener Wunder, die mit den Geschehnissen in der Rosenstraße in der ersten Märzwoche 1943 verbunden sind.

Ein Denkmal von Ingeborg Hunzinger

Der Frauenprotest in der Rosenstraße vom Februar/ März 1943 zählte ein halbes Jahrhundert lang zur weitgehend verschütteten Widerstandsgeschichte in Deutschland. Der amerikanische Historiker Nathan Stoltzfus hatte 1989 in der ZEIT zwar einen umfangreichen Aufsatz darüber publiziert - eine nennenswerte Reaktion darauf blieb leider aus.6)

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Von mir erschien dann 1990 im Hoch- Verlag ein Jugendbuch, in dessen Mittelpunkt jene Geschehnisse standen. Als diese Publikation Ende 1991 vergriffen war, konnte der Verlag zu keiner weiteren Auflage bewegt werden. In Berlin aber fand sich der engagierte Verleger Gerhard Hentrich zur Publikation einer überarbeiteten Fassung des Jugendbuches bereit.7) Völlig unerwartet fand dann der 50. Jahrestag der Geschehnisse in den Medien unseres Landes und sogar des Auslandes eine ganz außergewöhnliche Resonanz. Dieses einmalige und großartige Widerstandsereignis war somit in das öffentliche Bewusstsein gerückt.
     Schließlich ist es beachtenswert, daß noch im letzten Jahr des Bestehens der DDR an die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger der Auftrag ergangen war, zur Erinnerung an die FabrikAktion und den Protest in der Rosenstraße ein Denkmal zu schaffen. Diese eindrucksvolle Arbeit konnte am 18. Oktober 1995 eingeweiht werden.
     Die Künstlerin hat auf einem der Blöcke aus blassrotem Vulkangestein eine bemerkenswerte Interpretation des Geschehens gegeben - eine Auslegung, die sie eben nicht allein als Interpretation verstanden wissen möchte, sondern auch als Aufruf an die Menschen heute (daher das Präsens):
     Die Kraft des zivilen Ungehorsams und die Kraft der Liebe bezwingen die Gewalt der Diktatur.
1 Als Beispiele seien hier genannt: Ruth Andreas- Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 19381945. Berlin 1947 (Neudruck: Frankfurt a. M. 1983). Heinz Ullstein, Spielplatz meines Lebens: Erinnerungen. München 1961. Inge Unikower, Suche nach dem gelobten Land. Berlin (Ost) 1978.
2 Ein Terminus, der leider immer wieder fälschlicherweise im Zusammenhang mit den Verfolgungen und Deportationen von Juden benutzt wird. Eine Verhaftung ist die Festnahme eines Beschuldigten aufgrund eines Haftbefehls.
3 Gemeint ist selbstverständlich ein Massaker an deutschen Frauen.
4 Walter Laqueur, Jahre auf Abruf. Stuttgart 1982, S. 167-172
5 Persönlicher Referent von Goebbels
6 »Jemand war für mich da« - Der Aufstand der Frauen in der Rosenstraße, in: DIE ZEIT, Nr. 30/1989
7 Gernot Jochheim, Frauenprotest in der Rosenstraße. »Gebt uns unsere Männer wieder«, Berlin, Edition Hentrich, 1993
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
www.berlinische-monatsschrift.de