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Bernhard Meyer
Die letzten Tage des »Patienten A«

Zum Gesundheitszustand Hitlers

Am Neujahrstag 1945 träumten Hitler (1889-1945) und seine Clique unverdrossen vom Endsieg, während die meisten Berliner das Ende der Fliegerangriffe mit ihren zunehmend verheerenden Auswirkungen herbeisehnten. Der »Führer« wie das faschistische Deutsche Reich näherten sich ihrer Agonie: Bis zu seinem selbstgewählten Abtritt verblieben Hitler noch 119 Tage, während dem Nazireich bis zur bedingungslosen Kapitulation noch 128 Tage zugebilligt waren.
     In welcher körperlichen und vor allem gesundheitlichen Verfassung befand sich Hitler in der Endphase? Die schwerpunktmäßige Betrachtung von Gesundheit und Krankheit birgt selbst bei dem verbrecherischsten aller Diktatoren des 20. Jahrhunderts die Gefahr in sich, aus den Beschwerden noch so etwas wie Verständnis abzuleiten. Deshalb muss Hitler auch bei der Auflistung seiner gesundheitlichen Probleme stets vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ziele, die sich in klar formulierten und durch den Zweiten Weltkrieg angestrebten Weltherrschaftsinteressen ausdrückten, gesehen werden.

Alleinige Deutungsmuster medizinischer oder psychologischer Art würden die Verbrechen Hitlers verharmlosen und zugleich die Interessen der deutschen Wirtschafts- und Finanzwelt unberücksichtigt lassen.
     Die Öffentlichkeit wurde mit geschönten Konterfeis vom »Führer« getäuscht. Für die nur noch wenigen offiziellen Auftritte raffte er die ihm verbliebene Energie zusammen und bot den Fotografen und Kameraleuten Antlitz und Haltung, die dem Volke Vertrauen in schweren, aber für sie letztlich erfolgreichen Zeiten suggerieren sollte.
     Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch ein diesem Bild völlig entgegenstehender gesundheitlicher Allgemeinzustand. Hitler benötigte z. B. seit 1935 eine Brille, die jedoch auf keinem Foto und in keiner Wochenschau gezeigt wurde.
     Fast übereinstimmend berichten seine ihm nahe stehenden Paladine, die Militärs und seine Sekretärinnen und Diener, dass er nach 1940, also mit Beginn des Weltkrieges und jenseits seines 50. Lebensjahres, rasch alterte und etwa 1943 ziemlich plötzlich in Haltung und Gestus deutliche Merkmale eines Greises aufwies.
     Er schien körperlich verbraucht, während sein Kopf, sein Denken und Handeln, seine Reaktion davon weniger betroffen waren. Goebbels bescheinigte ihm im Juni 1944 noch, dass er »blendend aussieht und sich in guter Stimmung befindet.« 1) Eine deutliche Verschlechterung des allgemeinen Zustandes trat im Gefolge des Attentats vom 20. Juli 1944 auf.
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Obwohl die Beschwerden durch die dabei erlittenen geringfügigen Verletzungen bald abklangen, erlangte er seine Leistungsfähigkeit nicht wieder in vollem Maße zurück. Es blieben vor allem psychisch bedingte Einschränkungen.
     Um den Jahreswechsel 1945 bezeichnete Hitler die Wochen nach dem Anschlag als die schlimmste Zeit seines Lebens. Die Gefahr des körperlichen Zusammenbruchs schien für Beobachter nicht ausgeschlossen. Erstmalig wohl stellte sich bei ihm die Vorstellung ein, angreifbar, verletzbar, an die Grenzen der von ihm immer wieder strapazierten Vorsehung gelangt zu sein.

Linksseitiger Tremor und Parkinson-Syndrom

Seit den dreißiger Jahren schon aß der 1,75 m große und 70 bis 74 Kilo schwere Hitler vegetarisch, wobei er allerdings eine ärztlich gesteuerte Diät mied. Er entwickelte im Laufe seines Lebens eine ausgeprägte Aversion gegen Fleisch, Alkohol und Nikotin. Wie weit die von Hitler gewählte Ernährungsweise tatsächlich gesund oder gar einseitig war, lässt sich kaum mehr feststellen.
     Der Hauptgrund für das Fehlen gesicherter und verlässlicher Werte besteht darin, dass Hitler es stets strikt abgelehnt hat, einen medizinischen Gesamtstatus für sich erheben zu lassen.

Sein Leibarzt seit 1937, der Spezialist für Elektrotherapie und Harn- sowie Geschlechtskrankheiten Theodor Morell (1886-1948), der sich mehrfach um bestimmte diagnostische Untersuchungen bei seinem »Pat. A« bemühte, wurde immer wieder vertröstet. Hitler behauptet immer wieder mal, dass er nie krank gewesen und dementsprechend gesund sei.
     Zwei Krankheitsbilder nahm Hitler mit in das Jahr 1945, deren Auswirkungen ihm schon seit längerer Zeit zusetzten. Zum einen war dies ein Tremor (unwillkürliches rhythmisches Zittern der Muskeln) besonders im linken Arm und gelegentlich auch im linken Bein.
     Diese Zitterzustände belasteten ihn psychisch zunehmend, obwohl sie bisher nur intervallmäßig auftraten, aber niemals gänzlich verschwanden. Das Zittern der linken Hand versuchte er mit der rechten Hand zu überdecken, was natürlich seiner Umgebung nicht verborgen bleiben konnte.
     Mit Beginn des Jahres 1945 trat der linksseitige Tremor fast ununterbrochen in Erscheinung. Auf Personen, die mit ihm unmittelbar zu tun hatten, machte er einen bemitleidenswerten Eindruck. Morell standen seinerzeit allerdings noch keine Medikamente für die Behandlung zur Verfügung.
     Zum anderen befiel Hitler nach und nach das Parkinson- Syndrom (neurologische Erkrankung im fortgeschrittenen Lebensalter mit Verlangsamung aller Bewegungen, starre, gebückte Haltung mit nicht beeinflussbaren Bewegungsstörungen).
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Während andere Ärzte aus der Ferne Anzeichen dafür schon etwa 1943 entdeckt zu haben glaubten, bekannte sich Morell erst im April 1945 zum Morbus Parkinson. Der einzige gesundheitliche Lichtblick für Hitler ergab sich aus dem fast völligen Verschwinden seiner Darmkoliken, die ihn über Jahre belastet hatten.
     In diesem Zustand widmete sich Hitler den politischen und militärischen Zwängen. Dabei wurde der Spielraum für seine Entscheidungen immer enger und erforderte umso mehr Kraft und Konzentration, die er aber immer weniger aufbringen konnte. Dem stand u. a. sein völlig unrhythmischer Tagesablauf entgegen, den er allerdings schon seit vielen Jahren pflegte: Gegen 11 Uhr vormittags wecken, gegen 4 Uhr morgens Bettruhe.
     Dieser Lebensweise hatte sich seine Umgebung anzupassen; sie bestimmte den Arbeitsablauf mit Begegnungen und Beratungen sowie die nächtlichen Zusammenkünfte mit seinen verschiedensten Gesprächspartnern.
     Hitler hielt sich vom 11. Dezember 1944 bis zum 15. Januar 1945 im Führerhauptquartier »Adlerhorst« in Bad Nauheim auf, von wo aus er die Ardennenoffensive zu steuern versuchte. Seit der anschließenden Rückkehr nach Berlin lebte er ununterbrochen in der Reichskanzlei, zum Schluss in dem 1943 errichteten Bunker.
Hier, auf engstem Raum und bei täglicher Begegnung mit seinen engsten Mitarbeitern, gelang es ihm von Tag zu Tag weniger, seine früher zur Schau getragene Vollkommenheit nachzuweisen. Da er seinen Leibarzt Morell auf Distanz hielt, besaß dieser nur ein allgemeines Bild vom Zustand seines von ihm geachteten und bis zu letzt verehrten »Patienten A.«. Morell erachtete schon seit längerem Röntgenaufnahmen für dringend erforderlich, wollte sogar die notwendigen Apparaturen in der Reichskanzlei installieren lassen - allein Hitler wand sich unter Vorwänden stets aus der Situation.

Gespräche mit dem Arzt nur unter vier Augen

Überhaupt ließ er niemanden nah an sich heran, selbst seinen Schneider nicht, dem er Berührungen untersagte. So verwundert es nicht sonderlich, dass er medizinische Gespräche mit Morell stets unter vier Augen führte, sich bei seiner körperlichen Hygiene und beim Ankleiden von niemandem, auch nicht von seinen langjährigen Dienern Heinz Linge und Hans Junge, helfen ließ.
     So weit er Beschwerden überhaupt zugab, betrachtete er sie als Folge seines steten Einsatzes für Deutschland und des Verrats der Militärs.

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Ende August 1944 wird Hitler mit Blick auf den 20. Juli die Aussage zugeschrieben: »Wenn mein Leben beendet worden wäre, wäre es für mich persönlich, das darf ich sagen, nur eine Befreiung von Sorgen, schlaflosen Nächten und einem schweren Nervenleiden gewesen.« 2) Morell vermerkte in seinen Aufzeichnungen über Hitler am 16. Januar »große Aufregungen wegen des Russeneinbruchs« bei Krakow, wodurch das wichtige oberschlesische Industriegebiet gefährdet war, dessen Verlust die deutsche Rüstung erheblich treffen würde.
     Der Tremor trat wieder deutlicher in Erscheinung. Morell hielt zum wiederholten Male eine Röntgenaufnahme für erforderlich, wurde aber abgewiesen. Einen Tag später musste Hitler die Befreiung von Warschau zur Kenntnis nehmen.
     Zwölf Jahre nach seiner Ernennung zum Reichskanzler hielt er am 30. Januar die letzte Rundfunkrede, in der er den Widerstandsgeist der Deutschen beschwor, nachdem am 26. Januar 25 deutsche Divisionen in Ostpreußen abgeschnitten worden waren und am 28. Januar die Befreiung des KZ Auschwitz erfolgt war.

»Er ging gebeugt und war alt geworden«

Während Hitler Lazarettbesuche längst eingestellt hatte, besuchte er die kämpfende Truppe am 15. Februar zum letzten Male im Raum Frankfurt, also direkt an der Front, die sich seit dem 30. Januar bereits westlich der Oder und damit nur noch cirka 80 km vor der Reichshauptstadt befand.

Eine äußerste Kraftanstrengung wurde ihm am 24. Februar abverlangt, als die 25. Wiederkehr der Gründung der NSDAP in Berlin begangen wurde. Hitler hielt vor den versammelten Reichs- und Gauleitern eine grundsätzliche Rede, in der er gebetsmühlenartig den unausbleiblichen Sieg des Deutschen Reiches prophezeite. Sein Adjudant Nicolaus von Below: »Hitler ... machte auf die Besucher einen mitleidenswerten Eindruck. Er ging gebeugt und war alt geworden.« 3) Seine letzte Tischrede verstärkte den Eindruck, dass hier nicht mehr der »Führer«, sondern der schon überlebte Veteran der »Bewegung« gesprochen hätte.
     Im März und April plagten Hitler mehrere Erkältungen und Schnupfen. Sein Schlaf reduzierte sich inzwischen auf zwei Stunden, wobei seine Unausgeglichenheit zunahm und er impulsiv reagierte. Verschiedentlich verlor er in Gesprächen die Kontrolle über sich, präsentierte sich als Nervenbündel.
     Wenig verwunderlich, denn am 2. März besetzten die Amerikaner Trier und am 7. März erfolgte der alliierte Rheinübergang bei Remagen, während Ende März Danzig aufgegeben werden musste. Dazwischen lagen der Befehl vom 9. März zur Verteidigung Berlins »bis zum letzten Mann« 4) und der »Nero- Befehl«(verbrannte Erde) vom 19. März.
     Goebbels, der nun fast täglich mit Hitler zusammentraf, hielt in seiner Tagebuchnotiz vom 12. März 1945 fest: »Der Führer macht auf mich einen außerordentlich sicheren und festen Eindruck, und auch gesundheitlich scheint er mir in bester Form zu sein.« 5)
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Zehn Tage später hingegen konstatierte Goebbels nach einer zweistündigen Unterredung mit Hitler, dass er »einen sehr müden und abgekämpften Eindruck« mache und dass »ihn im wesentlichen nur noch sein eiserner Wille aufrechterhält« 6). Eine Woche später: »Gott sei Dank befindet sich der Führer in einer guten körperlichen Verfassung ... Nur bemerke ich mit Wehmut, daß er immer stärker gebeugt geht; aber er trägt dabei doch eine durchaus gelassene Miene zur Schau, was ja auch der gegenwärtigen Situation nur würdig ist.« 7)
     Ende März klagte Hitler wie bereits im Vorjahr über Sehbeschwerden am rechten Auge, mit dem er nur wenig sehen könne. Morell erkannte eine Conjunctivitis (Entzündung der Augenbindehaut) und riet zu mehr Nachtruhe und weniger Kartenlesen.
     Da sich die Entzündung nicht besserte, wurde am 7. April der Ordinarius für Augenkrankheiten der Charité, Walter Löhlein (1882-1954), der bereits im Februar 1944 auf dem Berghof Hitlers Augen behandelte, gerufen. Der diagnostizierte am rechten Auge eine Glaskörpertrübung infolge der Entzündung und am linken Auge ein Gerstenkorn sowie generelle Überanstrengung der Augen.
Seit Anfang April hatte Hitler den Bunker nicht mehr verlassen, also kein Außenlicht gesehen, keine frische Luft geatmet.
     Bevor Morell am 15. April mit der auf längere Sicht angelegten Kur zur Behandlung des Parkinson begann, erließ Hitler den Aufruf zum Werwolf am 2. April. Morell wollte dem Parkinson just in dem Moment therapeutisch begegnen, als die zur Festung erklärte Stadt Königsberg kapitulieren musste und die Russen mit ihrer Berliner Offensive begannen, welche die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges in Europa einleitete.

» ... müde, gebeugt, grau im Gesicht«

Zu seinem 56. Geburtstag am 20. April versammelte sich ein größerer Kreis von Gratulanten in der Reichskanzlei, während die Berliner vor den Lebensmittelgeschäften anstanden, um die »Sonderzuteilung zu Führers Geburtstag« zu ergattern. Seinen Gästen, unter ihnen Göring, Himmler, Goebbels, Bormann, Speer, Ley und Ribbentrop , die sich in dieser Runde letztmalig begegneten, trat er, wie sein Diener Linge berichtete, »gebückt mit schleifenden Schritten ... müde, gebeugt, grau im Gesicht, kraftlos schleppend« gegenüber.8)

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Inzwischen sandten die amerikanische und englische Luftwaffe mit ihrem letzten Bombenangriff auf Berlin einen ganz speziellen Geburtstagsgruß, der allerdings mehr die Bevölkerung traf.
     Tags darauf (21. April) entließ Hitler, während die Innenstadt unter pausenlosem Beschuss der Roten Armee lag, überraschend und ohne Vorankündigung seinen Vertrauten und ihm in jeder Hinsicht ergebenen Leibarzt Theo Morell.
     An seine Stelle trat Werner Haase (1900- wahrscheinlich Ende 1945), ein Chirurg der SS.
     Als die Rote Armee die nordöstlichen Außenbezirke von Berlin erreichte und die Entsatzarmee Wenck gescheitert war, erlitt Hitler einen schweren Nervenzusammenbruch. In dieser Situation übernahm er die Verteidigung Berlins, da er sich erneut von den Militärs belogen und betrogen fühlte.
     Turbulent und chaotisch die letzten Tage im Leben Hitlers. Eben noch erhielt er am 25. April die Nachricht von der Begegnung von Rotarmisten und US- Soldaten in Torgau an der Elbe, als sich der neue Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Karl Gebhardt (1897-1947, im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt), Oberster Kliniker beim Reichsarzt der SS und Polizei, noch am 26. April bei ihm vorstellte.
     Nach dessen späterer Aussage vor den Alliierten empfing und verabschiedete ihn Hitler mit den Worten: »Ich bin nicht mehr interessiert. Quälen Sie mich nicht mit unwichtigen Dingen.«9)
Die Blausäure probierte er an seiner Hündin aus

Hitler sann bereits seit längerem über die Art und Weise seines Todes nach und führte diesbezüglich mehrere Gespräche mit Haase. Der empfahl als sicherstes Mittel Blausäure. Da erreichte ihn die Kunde, Benito Mussolini (1883-1945) sei am 28. April von Partisanen ergriffen, erschossen und in Mailand an einen Laternenpfahl gehängt worden. Diese Nachricht wird seinen Entschluss befördert haben, sich einen sicheren Tod zu bereiten und seine Leiche beseitigen zu lassen. Der misstrauische Hitler probierte das angeratene Mittel an seiner geliebten Hündin Blondi erfolgreich aus.
     Bevor er selbst Hand an sich legte, wobei es bis heute unterschiedliche Versionen über den Hergang gibt, heiratete er am Abend des 29. April im Beisein der »Phalanx der Letzten«10), Goebbels und Bormann, seine Gefährtin seit 1929 Eva Braun (1912-1945). In den Nachmittagsstunden des 30. April 1945 töteten sich Hitler und Eva Braun. Sofort wurden beide im Garten der Reichskanzlei wunschgemäß verbrannt, während die Rote Armee am Potsdamer Platz stand.
     Über den Gesundheitszustand und die Gemütsverfassung von Hitler in seinen letzten Monaten liegen unterschiedliche und mitunter widersprüchliche Aussagen und Einschätzungen vor.

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Maser spricht von Ermattung und Euphorie, Erschöpfung und Doping, die sich in rascher Folge abwechselten und konstatierte eine Abhängigkeit von Morells permanent verabreichten Traubenzuckerinjektionen.11) Fest attestiert Hitler, er habe Ende März »jeden Überblick verloren und vergeudete seine Zeit in nutzlosen Streitereien, Vorwürfen und Erniedrigungen«12).
     Hitler, so Fest und Haffner13) hätte lebenslang ein »despoter Selbstmördertrieb« begleitet, der ihn letztlich zum höchsten Risiko bereit machte.
     Am verlässlichsten scheinen die Wertungen von Schenck zu sein, da er als Arzt in den letzten Wochen in Hitlers Nähe war und sich in seiner medizinischen Biografie Hitlers auf die z. T. sehr ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen Morells stützen kann. Nach seiner Auffassung könne von einer Drogenabhängigkeit nicht die Rede sein. Schenck sah Hitler zwölf Stunden vor dessen Suizid, als dieser sich von seinem medizinischen Personal im Bunker der Reichskanzlei verabschiedete: »Ich blickte auf das Ende und sah ihm ins Auge. In solcher Nähe hatte ich Hitler bisher nicht gegenübergestanden; dieser Mann unten war nicht einmal ein Hauch dessen, den Millionen Bilder gezeigt hatten.«14)
Niemand hatte Einblick in die Gespräche

Hitler wurde von 1937 bis faktisch zu seinem Tode von Theo Morell behandelt. Es war eine Zufallsbekanntschaft, die zu einem unerschütterlichen Vertrauensverhältnis der beiden Männer führte, da Morell den Intentionen Hitlers mehr als entgegenkam. So akzeptierte er u. a. die Eigenheiten Hitlers, sich selbst vor seinem Arzt nicht auszuziehen, sich von keinem Masseur berühren zu lassen und niemals in Gegenwart Dritter über seine gesundheitlichen Probleme zu reden.
     Alle diese Eigenheiten kamen Morell nicht ungelegen, denn auf diese Weise hatte niemand einen tatsächlichen Einblick in die Gespräche und Verabreichungen, die er allerdings umfangreich dokumentierte und die zur Auswertung vorliegen.
     In der Tat verfügte Morell von seinem Fachgebiet her nur über einen beschränkten Überblick über die Medizin und muss beispielsweise für Notfälle als ungeeignet eingestuft werden. Er galt als verschwiegen und kam medizinischen Wünschen Hitlers bereitwillig entgegen. Ein ärztliches Konsilium jedoch, wie bei Staatsmännern üblich, fand nie statt. Nur bei äußerstem Bedarf wurden Experten hinzugezogen.

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Morell neigte zur Polypragmasie (Behandlungsmethode mit vielfältigen Arzneimitteln für eine Krankheit) und willigte in die naturheilkundlichen Ambitionen Hitlers ein. Zwischen Arzt und Patient bestand nicht die erforderliche Distanz, sondern eher ein dienerisches Abhängigkeitsverhältnis des Arztes vom Patienten. Trotzdem musste Morell stets auf der Hut sein, denn er war in seinem ärztlichen Handeln zum Erfolg verurteilt, mindestens jedoch durften ihm keine auffälligen Fehler unterlaufen. Dies umso mehr, als Bormann und Himmler ihm seit langem misstrauisch gegenüberstanden und nach dem Krieg sogar Gerüchte auftauchten, wonach Morell ein Agent der Alliierten gewesen sein könnte.
     Verschiedentlich wird die Frage aufgeworfen, ob Hitler 1945 im medizinischen Sinne als Reichskanzler noch geschäftsfähig gewesen sei. Nach all dem, was über seinen Gesundheitszustand bekannt geworden ist, muss diese Frage verneint werden. Die eigentlich Mächtigen der Industrie und der Finanzen, die ihn einst an die Spitze der Regierung hievten und gewähren ließen, konnten sich seiner nun nicht mehr entledigen. In der Nachkriegszeit sollte der Eindruck erweckt werden, als ob Hitler allein »das Schicksal des Reiches und Volkes an sein seit Jahren nur noch armseliges Leben«15) gebunden hätte.
Quellen:
1 Joseph Goebbels, Tagebücher, Eintragung vom 6. Juni 1944, Bd. 5 (1943-1945), hrsg. von Ralf Georg Reuth, München 1999, S. 2043
2 Zitiert bei Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 32
3 Nicolaus von Below, Als Hitlers Adjudant 1937-45, Mainz 1980, S. 402
4 Befehl zur Verteidigung Berlins vom 9. März 1945, in: Gerhard Förster/ Olaf Groehler, Der zweite Weltkrieg. Dokumente, Berlin 1974. S. 299
5 Joseph Goebbels, Tagebücher, Eintragung vom 12. März 194,. a. a. O., S. 2149
6 Ebenda, Eintragung vom 22. März 1945, S. 2163
7 Ebenda, Eintragung vom 28. März 1945, S. 2171 f.
8 Heinz Linge, Bis zum Untergang, München/ Berlin 1980, S. 271 9 Zitiert bei Ernst Günter Schenck, Patient Hitler, Augsburg 2000, S. 399
10 Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biografie, 5. Aufl., 1973, S. 1010
11 Werner Maser, Adolf Hitler. Eine Biographie, München und Esslingen 1978, S. 396
12 Joachim C. Fest: Hitler, a. a. O., S. 996
13 Ebenda und: Sebastian Haffner, Anmerkungen, a. a. O., S. 32
14 Ernst Günter Schenck, Patient Hitler, a. a. O., S. 400
15 Werner Maser, Adolf Hitler, a. a. O., S. 518
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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