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Edeltraud Hinkelmann
Das Glaswerk auf der Halbinsel Alt-Stralau

Das Stralauer Glaswerk - 1889 in Berlin-Stralau auf dem Eckgrundstück an der Kynaststraße und der damaligen Dorfstraße gegründet - hat 1997 seine Pforten geschlossen. Das geschah nach einer Havarie der letzten noch arbeitenden Schmelzwanne und kurz vor seinem 110. Jubiläum. Heute erinnern nach dem Abriß mehrerer Gebäude auf dem Gelände nur noch ein erhalten gebliebenes Zentralbüro, Teile der Werkstattanlage, eine alte Tischlerei und zwei ca. sechzig Meter hohe Schornsteine an das stattliche Unternehmen.
     Begonnen hat seine Geschichte, als 1889 der jüdische Handelskaufmann Edmund Nathan die Stralauer Dammwiesen an der Dorfstraße kaufte, um sie als Großlagerplatz für Flaschen zu nutzen. Wegen Geldmangels mußte er im gleichen Jahr wieder verkaufen, konnte aber zwei Geschäftsleute, die Herren Evert und Neumann, für den Kauf des Grundstücks und sogar für den gemeinsamen Bau einer Glashütte interessieren. Nathan wurde einer der Gesellschafter des zukünftigen Unternehmens, das 1890 die

Konzession zum Bau und Betrieb einer Glashütte erhielt. Schon zum Baubeginn kamen die ersten Glasmacher aus der Hamburger Gegend, aus Flensburg und Schleswig-Holstein angereist, um in ihrem Fach zu arbeiten. Versprach doch die neue Hütte Arbeit und Verdienst.

Die Stralauer Flaschenfabrik Evert und Neumann KG

Die Glasmachergesellen wurden erst einmal als Hilfsarbeiter beim Bau eingestellt, doch schon im Dezember 1890 waren Fabrikanlage, eine Wanne (»Wanne II«!) und das Gemengehaus fertiggestellt. Die Fabrikanlage war so gebaut worden, daß sie jederzeit erweitert werden konnte.
     Nach Inbetriebnahme der ersten Wanne erfolgte zwei Wochen später der Handelsregistereintrag als »Stralauer Flaschenfabrik Evert & Neumann Kommanditgesellschaft«.
     Nathan, Evert und Neumann hatten einen guten Standort gewählt. Nahe der Großstadt und direkt am Wasserweg Spree gelegen, fehlte nur der eigene Bahnanschluß. Aber die gute Lage hatte ihren Preis: Zwei Millionen Mark mußten die Gesellschafter für Grundstück und Gebäude hinterlegen, und damit war ihr Kapital aufgebraucht. Schon vor Produktionsbeginn, im November 1890, waren Hypotheken aufgenommen worden.
     In einer Glashütte sind die Selbstkosten hoch, denn Arbeitskräfte kosten mehr als

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in anderen Unternehmen. Ist doch die Glasmacherkunst ein spezialisiertes und darum privilegiertes Handwerk. Die billige oder sogar freie Wohnung der Glasmacher, freie Kohlen und sogar Reisevorschüsse für Familienheimfahrten waren Standards, denen der Glasfabrikant entsprechen mußte.

Wider den »socialistischen Unfug«

Edmund Nathan stand solchen Privilegien auch aufgeschlossen gegenüber. Berechtigte Forderungen waren für ihn angemessene Verhältnisse in der Fabrik, gute Wohnungen, billige und gesunde Nahrungsmittel und möglicherweise die Betreuung der Kinder in einem Kindergarten. Sicherlich bedachte Nathan dabei, daß zufriedene Arbeiter flei-ßiger und damit rentabler für ein Unternehmen arbeiten. Aus ebendiesem Grund wollte er auch keine harten Konflikte. So gab es in der Glashütte gewählte Arbeitervertreter, die mit den Fabrikdirektoren zu regelmä-ßigen Beratungen der aktuellen Probleme zusammenkamen. Nathan meinte, »daß sich die Arbeiter in einer so organisierten Fabrik wohl fühlen und zufrieden sind, fleißig arbeiten, weil sie so schönes Geld verdienen, und so gibt es keinen socialistischen Unfug«.1)
     Zu Nathans unternehmerischen Überlegungen gehörte auch der Bau von betriebseigenen Wohnungen. So ließ er in der Dorfstraße 6,

heute Alt-Stralau 46, für die Glasmacher drei fünfstöckige Wohnhäuser bauen. Hier wurden »beste Wohnbedingungen geschaffen. Jedes Haus hatte 26 Zwei-Zimmer- Wohnungen, 22,5 bzw. 15 qm, eine geräumige Küche, 15 qm, Wasseranschluß, Waschküchen und Rollräume im Keller, dort auch Bad und Brausebäder. In der zweiten bis fünften Etage hatten je fünf Wohnungen einen gemeinsamen Flur, davon jedes Zimmer einen eigenen Zugang und damit eine abschließbare Ruhezone für Schichtarbeiter. Alle Wohnungen hatten Niederdruckdampfheizung. Hinter den Häusern lagen Gärten mit Obstbäumen, war auch ein Spielplatz eingerichtet, dahinter Lagerplätze für die Fabrik.«2) Diese Wohnhäuser waren bekannt als die »Hüttenhäuser«. Im letzten Jahr wurden jene zwei, die den Krieg überstanden hatten, aufwendig rekonstruiert. Sie stehen unter Denkmalschutz.
     Nachdem 1891 in der Stralauer Glashütte die Wanne I in Betrieb genommen wurde und 1892 Wanne III, reichten die Betriebswohnungen aber bald nicht mehr aus. Die Glasfabrik schloß mit Hausbesitzern der umliegenden Straßen Mietverträge, und weitere Hausbesitzer im anliegenden Rummelsburg und Lichtenberg wurden angesprochen.
     Das Unternehmen gab einen Mietzuschuß von siebzig bis achtzig Prozent. Außerdem bekam jeder verheiratete Glasmacher pro Woche zwei Zentner Koks.
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Konkurs und Neugründung der »Stralauer Glashütte AG«

Mit Fertigstellung der Wanne IV 1894 arbeiteten in der Stralauer Glashütte nun täglich in jeder Schicht, Tag und Nacht, ca. 130 Glasmacher an den Wannenöfen, und zwar 10 Stunden im Akkord. Sie wurden nach Stücklohnsätzen bezahlt, dem sogenannten Hüttenhundert.
     In Stralau bedeutete damals ein Hüttenhundert, 34 Bier- oder 29 Weinflaschen zu fertigen. Ein Glasmacher schaffte sieben bis acht Hüttenhundert täglich und hatte einen Schichtverdienst von vier bis fünf Mark.
     Die ständigen Erweiterungen im Glaswerk führten zwar binnen kurzem zu einer beachtlichen Produktion, aber auch zu neuen Verschuldungen. Ein Konkurs war schließlich nicht mehr aufzuhalten.
     Das Konkursverfahren über die Kommanditgesellschaft wurde im Januar 1896 eröffnet. Im Dezember 1896 wurde aus der Konkursmasse die »Stralauer Glashütte Actiengesellschaft« gegründet. Zu den Neugründern gehörten die Gläubiger der Kommanditgesellschaft.
     In den Glasöfen der Hütte wurde in dieser Zeit grünes, braunes oder goldgelbes Glas geschmolzen und in den unterschiedlichsten Formen zu Flaschen verarbeitet. Diverse Bier-, Wein-, Champagner-, Likör- und Mineralwasserflaschen waren im Angebot.

Ab 1898 wurde auch Großglas gefertigt und in der Korbflechterei zu Korbflaschen oder -ballons komplettiert. In einer ersten Filiale in Rauscha (Niederschlesien) - heute Ruszów bei Zgorzelec (Polen) - wurde seit 1900 farbiges Glas produziert. 1909 entstand die zweite Filiale in Rädnitz - heute Radnica - an der Oder. Sie stellte Flaschen und Großglas für die östlichen Absatzgebiete her.
     Im Stralauer Glaswerk arbeiteten zu dieser Zeit ca. 200 spezialisierte Flaschenmacher. Zu den gelernten Arbeitern, die dort beschäftigt waren, gehörten die Glasmacher und die Metallarbeiter, die die Werkzeuge der Glasmacher instand hielten. In anderen Bereichen des Werks arbeiteten Ungelernte, so die Kohlenkarrer - darunter Strafarbeiter aus Rummelsburg, die die Kippkarren zu den Gasgeneratoren schieben mußten - und die Koks-Sieber. Sie karrten den beim Schüren entstehenden Löschkoks weg. Die Flaschen wurden von Ungelernten, meist Frauen, sortiert und verpackt.

Generalstreik der Glasmacher

Die vergleichsweise guten sozialen Bedingungen in der Stralauer Glashütte hielten die Glasmacher aber nicht davon ab, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Seit 1897 hatte sogar der Zentralverband der Glasarbeiter seinen Sitz in Stralau. 1901 wurde von hier aus zum Generalstreik aufgerufen. Gestreikt wurde u. a. für die Anerkennung des

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In der Maschinenanlage der Stralauer Glashütte AG

Organisationsverbandes und gegen den Arbeitsnachweis, der von Arbeitgeberverbänden eingeführt worden war, um die Arbeiter zu kontrollieren, ob sie gewerkschaftlich organisiert waren. Die Glasmacher in Stralau solidarisierten sich mit den Glasmachern in ganz Deutschland, die bereits ausgesperrt waren, und streikten mit. Während des Streiks mußten sie ihre Werkswohnungen verlassen und erlebten die Solidarität der anderen Bewohner Alt-Stralaus. Nach zehn Wochen waren die Streikkassen leer, und der Streik nahm ein plötzliches Ende. Danach ging es in vielen Glashütten Deutschlands hart zu. Viele der Streikenden kamen auf schwarze Listen, mußten ins Ausland gehen oder die Branche wechseln. In Stralau selbst gab es jedoch keine Maßregelungen. Die Arbeit ging weiter.
     Mundgeblasenes Glas mußte sich Anfang des 20. Jahrhunderts einer neuen Konkurrenz stellen. 1899-1905 entwickelte der amerikanische
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Ingenieur M. J. Owens (1859-1923) eine vollautomatische Flaschen-Maschine.
     1909 wurde in Stralau die erste Owens-Maschine eingebaut. Nebenher blieb die Handproduktion bestehen - so wie in den meisten anderen Glashütten auch.
     An einer Owens-Maschine arbeiteten Maschinenführer, Hilfsarbeiter, Abnehmer (Ausleerer) und Einträger. Ab 1912 wurde an den Wannen eine Ventilation für Frischluftzufuhr eingebaut, und vor den Wannen wurden Schutzklappen aus Eisen angebracht. Der Glasmacher war so nicht mehr ständig der übergroßen Hitze ausgesetzt. Wollte er Glas aus der Wanne holen, konnte er mit einem Tritt die Wanne öffnen oder schließen.

Flaschen für den Krieg

Anfang 1916 kamen Kriegsgefangene - Franzosen, Belgier und Russen - zur Arbeit in die Glashütte. Sie wurden im Gemengehaus als Ungelernte sowie für Hofarbeiten eingesetzt. Ebenfalls 1916 erhielt die Fabrik den Auftrag, große Mengen von Glasbehältern für Giftgasgranaten herzustellen. Sie wurden auf der Owens-Maschine produziert und brachten hohen Gewinn. Transportiert wurden die Behälter und Flaschen mit Pferdegespannen zum Betriebsbahnhof Rummelsburg. Durch den Kriegsgewinn konnte nun an einen eigenen Gleisanschluß gedacht werden, der dann 1920 gebaut wurde.

Im Frühjahr 1923 wurde zwischen der AG Stralau und der AG Siemens in Dresden eine Interessengemeinschaft gebildet. 1931 fusionierten beide zu »Siemensglas Alt-Stralau«.
     Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs liefen die Geschäfte gut. Die Versorgung der Wehrmacht mit Bieren, Schnäpsen und auch Weinen bedurfte stets vieler neuer Flaschen, da kein Leergutrücklauf von den Fronten erfolgte. Millionenaufträge gab es für besondere Flaschen, die für die Rommeltruppen in Afrika bestimmt waren. Als Arbeitskräfte dienten auch Zwangsverpflichtete aus besetzten Gebieten, darunter Jugendliche aus dem »Protektorat Böhmen und Mähren«, aus Holland, später aus Weißrußland und der Ukraine.
     Kurz vor Kriegsende - im Februar 1945 -wurde die Glashütte bei einem Luftangriff auf Stralau zu 70 Prozent zerstört.

Der Neuaufbau nach 1945: VEB Glaswerk Stralau

Schon am 23. Mai 1945 gaben das Bezirksamt und die sowjetische Bezirkskommandantur Friedrichshain den Betrieb zur Wiederaufnahme der Arbeit frei. 95 Männer und Frauen - alles ehemalige Betriebsangehörige - waren erschienen, um beim Wiederaufbau des Betriebes zu helfen. Zunächst mit Aufräumungsarbeiten, notwendigen Reparaturen am Fabrikgebäude und an den Maschinen.

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Nach dem notdürftigen Wiederaufbau begann im November 1945 die Produktion unter sowjetischer Leitung an einer Wanne. Es wurden Bier- und Seltersflaschen für Berlin und Champagnerflaschen als Reparationsauftrag für die Sowjetunion produziert. Auch Verschlußfabrik und Korbflechterei arbeiteten wieder, größeres Behälterglas wurde in Handarbeit gefertigt. Der Versuch, dringend benötigtes Fensterglas herzustellen, scheiterte. Für die Flachglasproduktion war die Hütte nicht geeignet.
     Der komplette Wiederaufbau des Betriebes erfolgte in den fünfziger Jahren. Produziert wurden im »VEB Glaswerk Stralau« Flaschen und Gläser für das In- und Ausland, so Weinflaschen für das Rhein-, Saar- und Moselgebiet, Sherryflaschen für Spanien und Portugal, Bierflaschen für Belgien, grüne Bordeauxflaschen für Frankreich.
     1968 erfolgte der Abbau der alten Owens-Maschinen und ihr Ersatz durch moderne und hochproduktive Speisermaschinen. Das führte zu einer weiteren Standardisierung. Später kamen neue Arbeitskräfte aus Vietnam und Moçambique in die Produktion.
     1986/87 wurde das alte Gemengehaus stillgelegt, ein neues Scherbenlager eingerichtet und die Gemengeproduktion automatisiert.
     1990 kam es zur Gründung der Stralauer Glashütte GmbH.
     1991 übernahmen die Nienburger Glaswerke das Werk. In Stralau wurden bis zur Havarie der letzten Schmelzwanne im Jahre 1997
die grünen Beck's-Bierflaschen produziert.
     Die Nienburger Glaswerke errichteten ein neues Glaswerk in Neuenhagen bei Berlin.

Quellen:
Peter Franke: Arbeiter in Berlin-Stralau 1890-1914. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zur Arbeiterschaft in der Stralauer Glashütte AG und ihrer Einzugsgebiete im Berliner Osten bis zum 1. Weltkrieg, Diss. A, Humboldt-Universität 1992
Betriebs-Chronik VEB Glaswerk Stralau, Manuskriptdruck

Anmerkungen

1 Peter Franke: Arbeiter in Berlin-Stralau ...
2 Ebenda

Bildquelle: Wasserstadt GmbH

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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