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Kristiane Lichtenfeld
»Eine Meile von Berlin«

Vom Meilenstein vor der Charlottenburger Residenz

Wer heute in Charlottenburg am Luisenplatz aus dem Bus steigt, um sich, sagen wir, zum interimsmäßig im östlichen Stülerbau untergebrachten Ägyptischen Museum zu begeben, kommt an den Mauern des ehemaligen Marstalls entlang und dort, Ecke Nithackstraße, an einer Meilensäule vorbei. Die Säule - auf einem Sockel stehend, ihren oberen Abschluß bildet eine ziemlich frisch vergoldete Kugel mit einer Spitze - trägt die Aufschrift: »Eine Meile von Berlin«. Fast stutzt man, hier an der Altstadt, der früheren Residenzstadt Charlottenburg, auf eine solche Markierung zu stoßen, und wer einmal davon gehört hat, wie sehr das - freilich spätere, wohlhabende, bürgerliche - Charlottenburg auf Distanz zu dem expandierenden Berlin gehalten hat, der kann die Aufschrift auf der Meilensäule als solch eine Distanzierung verstehen. Erläuterungen zur Meilensäule gibt es vor Ort nicht.
     Die frische Vergoldung der Kugel weist auf gegenwärtige Denkmalpflege hin, jedoch findet man in der umfangreichen

Literatur zu Charlottenburg (nach dem Boom der 750-Jahr- Feier Berlins 1987 und deren Nachwehen sorgt das wieder vereinte Berlin für neue Anregung und Nachfrage) nur mühsam Hinweise auf diese Meilensäule. Die goldene Kugel mit der Spitze - fast erinnert sie an ein Zepter.
     Distanz oder Nähe, was meint die »eine Meile«?
     Die Beziehungen zwischen Berlin und Charlottenburg waren bald enger, bald loser, je nach dem Gusto der jeweils herrschenden Hohenzollern. Den Anfang machte Sophie Charlotte (1668-1705), die zweite Gemahlin des ersten Königs in Preußen - sie ließ sich 1695-1699, noch als Kurfürstin, im Spreebogen hinter dem Dorf Lützow ihr Sommerschloß Lützenburg erbauen und veranstaltete daselbst nicht nur ausgelassene Geselligkeiten, sondern als hochgebildete Welfin entfaltete sie, für das brandenburgische Kurfürstentum eine Neuerung, ein reges geistig- kulturelles Leben. Durch sie kam die italienische Oper an den brandenburgischen Hof, und sie bewegte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), damals der berühmteste deutsche Gelehrte, zu häufigen Aufenthalten in Lützenburg.
     Nach Sophie Charlottes frühem Tod 1705 gab König Friedrich I. (1657-1713, Kurfürst ab 1688, König ab 1701) der neuen Residenz den Namen Charlottenburg, er gründete die Residenzstadt (die heutige Altstadt Charlottenburg) und ordnete Erweiterungsbauten am Schloss an.
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Das Schloss war in der Folge aber eher Stätte für Familienfeste der Hohenzollern und für Staatsempfänge, u. a. weilten 1709 August der Starke (1670-1733, Kurfürst ab 1694, König ab 1697) in seiner Eigenschaft als König von Polen in Charlottenburg, 1717 Peter der Große (1672-1725, Zar ab 1682).
     Letzterer Besuch fand schon unter Friedrich Wilhelm I. (1688-1740, König ab 1713) statt. Der Soldatenkönig hatte wenig Liebe für das Schloss, er ließ Erweiterungsbauten stoppen, jedoch trieb er den Ausbau der Residenzstadt Charlottenburg voran, deren Bewohner zwar eine Zeit lang Abgabenprivilegien genossen, ansonsten aber stets davon abhängig waren, ob das Schloss genutzt wurde und also lebenssichernde Aufträge aus der Nutzung resultierten.
     Der junge Friedrich II. (1712-1786) wählte nach seinem Regierungsantritt 1740 Charlottenburg zur Residenz und nahm so schnell den Ausbau derselben in Angriff,

Meilensäule am Luisenplatz, Detail
dass vermutet wird, er habe schon während seiner Kronprinzenzeit mit seinem Freund Knobelsdorff Baupläne geschmiedet. Zwar entstand der Neue Flügel, auch Knobelsdorff- Flügel genannt, bald aber schon besann Friedrich sich eines anderen und errichtete sich in Potsdam sein Sanssouci.
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Bereits 1718 hatte der Soldatenkönig festgelegt, dass der Verkehrsweg von Berlin nach Spandau nicht mehr auf dem Nordufer der Spree verlaufen, sondern durch den nunmehr geöffneten Tiergarten über Charlottenburg führen sollte. Damit war immerhin eine direkte Verbindung zwischen Berlin und Charlottenburg hergestellt. Als aber Friedrich Nicolai (1733-1811), Schriftsteller und Verleger der Berliner Aufklärung, 1786, d. h. am Ende von Friedrichs II. Lebenszeit, seine »Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam nebst aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten der umliegenden Gegend« herausgab, fanden darin Charlottenburg und der Weg dahin verständlicherweise nur eine marginale Erwähnung: »Charlottenburg. Eine Immediatstadt und königliches Lustschloss, liegt im Teltowschen Kreise, eine sehr kleine Meile von Berlin, die man von Tore zu Tore gemächlich in einer Stunde gehen kann. Es gehet durch den Tiergarten dahin ein sehr angenehmer Weg. Man kann auch, wenn man vom Weidendamme abfähret, durch den Unterbaum auf der Spree eine wegen der umliegenden waldigten Gegend sehr reizende Spazierfahrt zu Wasser dahin tun.«
     Von einer Meilensäule, die etwa die »sehr kleine Meile« angezeigt hätte, ist dabei keine Rede. Weil es sie noch nicht gab?
Nun ein Zeitsprung: Zum Jahre 1905, als die infolge der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts zu Reichtum gelangte, selbstbewusste bürgerliche - und immer noch selbständige - Stadt Charlottenburg zu ihrem zweihundertjährigen Stadtjubiläum das pompöse Rathaus am heutigen Richard-Wagner- Platz einweihte, lag auch eine Stadtgeschichte vor, verfasst von Wilhelm Gundlach im Auftrage des Magistrats von Charlottenburg. Bei Gundlach, endlich, finden sich konkrete Erwähnungen. Eher am Rande berichtet Gundlach von folgender Episode: »Kaiser Wilhelm I. und der Meilenstein vor dem Schlosse. Durch das Gesuch des Vereins ehemaliger Waffengefährten, eine Friedenseiche pflanzen zu dürfen, und zwar an der Stelle des bisherigen Meilensteins, wurde der Kaiser darauf aufmerksam gemacht, dass der Stein entfernt sei; er befahl darauf durch die von der Mainau ergangene Kabinettsordre vom 13. Juli 1875, den Stein, wegen der an denselben sich knüpfenden Erinnerungen wieder an der alten Stelle aufzurichten...«
     Und an anderer Stelle kommt Gundlach auf den Fall zurück: »Wie die Treue der Grundzug seines (Wilhelms I.) Wesens war, so hing er auch an dem Charlottenburger Schloss, in welchem er einen großen Teil seiner Jugendjahre verbracht hatte, und nichts durfte daran geändert werden:
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Als ohne sein Wissen der Meilenstein, welcher auf dem Luisen- Platz aufgerichtet war, bei der Einführung des Metermaßes nach dem Schloss Ruhwald in die Zehn- Kilometer- Entfernung von Berlin versetzt wurde, befahl er, sowie er davon Kunde erhielt, die unverzügliche Wiederaufstellung an dem alten Standort...«
     Die kaiserlichen »Erinnerungen« mögen gewiss auch jene an seine Eltern gewesen sein - an König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840, König ab 1797) und die so geliebte und bewunderte Königin Luise, die beide das Schloss Charlottenburg als Sommerresidenz für sich erkoren hatten und deren Grabstätte das Mausoleum im Schlosspark wurde - auch die Grabstätte für Wilhelm I. (1797-1888, Regent ab 1858, König ab 1861, Kaiser ab 1871) und seine Gemahlin sollte es werden...
     Wilhelm I. selbst begab sich allerdings später nur selten nach Charlottenburg. Das Wachstum der Stadt nahm dem Ort allmählich den Reiz des ländlichen Alternativwohnsitzes.
     Die erwähnte Friedenseiche, die vom Kaiser einen anderen Platz zugewiesen bekam, holte die Meilensäule also noch einmal auf ihren Platz vor dem Schloss zurück. Die zweite - bis heute anhaltende - Verdrängung geschah 1905. Zur Zweihundertjahrfeier Charlottenburgs nämlich errichtete die Stadt vor dem Schloss ein eindrucksvolles Reiterdenkmal für Kaiser Friedrich III. (1831-1888).
Der schwerkranke zweite Hohenzollernkaiser, der Held von Königgrätz (1866) und Sedan (1870/71) und die Hoffnung des liberalen Bürgertums, erlebte nur eine Regierungszeit von 99 Tagen. Der so genannte 99-Tage- Kaiser hatte im Jahre 1888 ausschließlich in Charlottenburg residiert, denn mit Hinblick auf seinen Gesundheitszustand war ihm das Schloss draußen vor der Hauptstadt als Aufenthaltsort angeraten worden. Zu ihrem Jubiläum wollte die Stadt diesen Kaiser ehren.
     Endgültige Aufklärung über den Ursprung der Meilensäule, über ihre Versetzung auf die andere Fahrdammseite sowie Foto- Dokumente von ihrem einstigen Standort brachte - trotz, wie schon gesagt, vielfältiger hiesiger, großenteils illustrierter Literatur - dennoch erst ein Band mit alten Charlottenburger Ansichten, den ein offenbar Ex- Charlottenburger kurioserweise in den Niederlanden publizierte!
     Zwei alte Fotos darin zeigen die Meilensäule am Luisenplatz vor dem Schloss, und der Autor nennt den Anlass für ihre Installation: Als Friedrich Wilhelm III. 1797 den Thron bestieg, veranlasste er schon sehr bald - fast achtzig Jahre nach der Verlegung des Berlin- Spandauer Weges über Charlottenburg - die Befestigung dieses Verkehrsweges. Die Fertigstellung der Chaussee von Berlin nach Charlottenburg schließlich wurde 1799 zum Anlass für die Errichtung der Meilensäule.
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»Eine Meile von Berlin«, das meint die Entfernung zwischen dem Berliner Stadtschloss und der Charlottenburger Residenz. Bekanntlich liebten der König und seine Gemahlin Luise Charlottenburg als Sommersitz. Also ist die Meilensäule eine königliche, residenzliche Angelegenheit, und mit ihrer Entfernungsangabe bezeichnet sie eher liebevoll die Nähe der beiden Residenzen Berlin und Charlottenburg zueinander.
     Ein Band mit historischen Postkarten von Charlottenburg enthält ein Foto von jenem 1905 errichteten Kaiser- Friedrich- Denkmal. Ein bronzenes Reiterstandbild auf einem Granitsockel, den eine Dornenkrone umschlingt. Ein steinerner Rundgang mit Reliefs stellt Szenen aus dem Leben des Kaisers dar (Schöpfer der Skulptur: Joseph Uphues)... Die schlichtschöne Meilensäule wurde über den Fahrdamm ortgedrängt.
     In seinen »Spaziergängen in Charlottenburg« vermerkt Klaus-Dieter Wille, dass das Kaiser- Friedrich- Denkmal 1955 »aus heute nicht mehr verständlichen Gründen« entfernt wurde. Aus anderer Quelle erfährt man, dass das Denkmal schwer kriegsbeschädigt war.
     Heute ist der Luisenplatz wieder Grünanlage. Da nicht anzunehmen ist, dass das Kaiser- Friedrich- Denkmal rekonstruiert wird, könnte es ja sein, dass sich Charlottenburg anlässlich seiner nicht mehr fernen 300-Jahr- Feier dazu entschließt, die Meilensäule aus ihrem Schattendasein an der Marstallmauer zu befreien und ihr wieder ihren eindeutigen, ursprünglichen Standplatz zukommen zu lassen? Es gibt nicht viele solcher Stücke in Berlin!
Quellenangaben

Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstadt Berlin, Eine Auswahl, Hrsg. Karlheinz Gerlach, Leipzig 1987, S. 315;

Wilhelm Gundlach, Geschichte der Stadt Charlottenburg, Berlin 1905, Bd. 2, S. 540 und Bd. 1, S. 669.

Gustav Sichelschmidt, Charlottenburg in alten Ansichten, Europäische Bibliothek - Zaltbommel/ Die Niederlande MCMLXXVI;

Birgit Jochens, Charlottenburg in historischen Postkarten, Berlin 1997, S. 29.

Spaziergänge in Charlottenburg, Berlinische Reminiszenzen, Berlin 1992, S. 26;

Gustav Sichelschmidt, a. a. O., S. 57.

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
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